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Weinrache

Weinrache

Titel: Weinrache
Autoren: S Kronenberg
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gehorchte zaudernd, als sie sich langsam umwandte. Auch an der Rückwand glomm eine elektrische Fackel, in deren Schein sich eine Gestalt erhob. Aufrecht wie ein Mensch, breitete sie die Arme aus wie zu einer Umarmung. An den Pranken glänzten die Krallen im Wettstreit mit den Reißzähnen im aufgesperrten Maul. Norma schlug die Arme über dem Kopf zusammen und duckte sich unwillkürlich, obwohl eines gewiss war: Kein lebendiger Bär könnte so lange auf den Hinterbeinen ausharren.
    Sie zog sich am Gitter hoch. Selbst im Stehen musste sie nach oben blicken, um Meister Petz in die Glasaugen zu sehen. Seinem Jäger erschien er selbst als leblose Hülle bedrohlich genug, um ihn in einem Käfig zu halten. Norma entdeckte ein Schloss neben der Wand. Dort waren einige Stäbe zu einer schmalen Tür verbunden, die sich – wie nicht anders zu erwarten – nicht rührte, so heftig Norma auch daran rüttelte. Sie schob die flache Hand in den Pelz, der sich rau und staubig anfühlte.
    Ihr war eiskalt. Sie hüllte sich in eine Kuhhaut und setzte sich auf den Boden. Die Kopfschmerzen ließen allmählich nach, und der Druck unter den Schläfen ebbte ab. Was die Brisanz ihrer Situation betraf, wendete sich nichts zum Guten. Sie war darauf angewiesen, dass sich der Entführer bald zeigte, wollte sie in ihrem Verlies nicht verdursten und verhungern. Eine Gratwanderung: Wenn sich der Entführer offenbarte, konnte das einem Todesurteil gleich kommen.
    Sie musste eingenickt sein. Ein Geräusch schreckte sie auf, das Schließen einer Tür. Dann hörte sie Schritte. Als sie die Augen aufschlug, stand er vor ihr. In angespannter Haltung, das Gesicht unmaskiert.
    Er öffnete die Arme wie der Bär und pries mit Besitzerstolz die Schätze ringsum. »Wie gefällt dir mein geheimes Reich?«
    Sie richtete sich an den Stäben auf, bis sie ihm gegenüberstand. So hatte er sie nie zuvor angesehen. In diesem Blick gab es keine Grenzen. Als betrachtete er eine Beute, die seinem Verlangen mit Haut und Haaren ausgeliefert war.
     

37
    Lutz kam mit dem Brief nicht voran. Im Grunde eine banale Anforderung: Mit einem freundlichen Schreiben wollte er das Geburtstagsfest absagen und stattdessen zu einem Sektempfang einladen. Die Gründe mussten jedem Empfänger einleuchten. Die Gäste hatten die Nachricht über den Tod seines Sohnes erhalten. Trotzdem fiel es Lutz, der um Worte, ob geschrieben oder gesprochen, gewöhnlich nicht verlegen war, erstaunlich schwer, die angemessenen Sätze zu finden. Wieder zerknüllte er ein Blatt und legte den Stift beiseite. Er stand auf und trat ans Fenster. Sein privates Arbeitszimmer lag im oberen Stockwerk der ›Villa Tann‹. Aus dem Erker konnte man das Nerotal weit überblicken. Der Regen hatte nachgelassen. Im Park stieg Dunst auf, der die Konturen der Baumkronen verschwimmen ließ und die Fassaden der Villen am Hang gegenüber mit einem geheimnisvollen Schleier umfing.
    Vielleicht war es der Traum der vergangenen Nacht, überlegte Lutz, der seine Einfälle blockierte. Nur selten blieben ihm Träume im Gedächtnis, aber dieser war ihm am Nachmittag noch gegenwärtig. Lutz konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor von Bären geträumt zu haben. Rohe zottige Braunbären hatten seinen Traum durchstreift, und als er aufwachte, war ihm ein Gedanke durch den Kopf geschwirrt, ein seltsames Wort, das ihm seit dem Aufstehen keine Ruhe ließ: die Bären-zwillinge.
    Während er hinaus auf die tropfnassen Baumkronen schaute, wurde ihm bewusst, dass der Begriff etwas mit Arthur zu tun hatte. Mit Arthur als Kind. Er verfluchte sich wie so oft dafür, die Kindheit und Jugend seines Sohnes weitgehend versäumt zu haben. Lesungen und Treffen mit Autoren, gesellschaftliche Abende und Affären waren ihm wichtiger gewesen als das eigene Kind. Doch er erinnerte sich an eine Zeit, in der Arthur unablässig über Bären philosophierte, Grizzlys und Eisbären auf Plakaten und Postkarten die Wände seines Kinderzimmers bevölkerten und sich auf dem Nachttisch Bücher mit Bärengeschichten stapelten. 10 oder 12 Jahre alt war Arthur, so schätzte Lutz, und ihm fiel ein, dass sein Sohn die bärige Leidenschaft mit einem Freund geteilt hatte.
    Bruno Taschenmacher. Lutz sah den kleinen Bruno in Gedanken vor sich: ein kurzbeiniges pummeliges Kind in billiger Kleidung, das knallrot anlief, sobald Lutz es ansprach. Ein schüchterner Junge, der mit offenen Augen durch die Villa stiefelte und jede Nische erkundete, sobald er sich unbeobachtet fühlte,
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