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Weg da das ist mein Fettnapfchen

Weg da das ist mein Fettnapfchen

Titel: Weg da das ist mein Fettnapfchen
Autoren: Notaro Laurie
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Nebenmanns pflücken zu müssen. In diesem Punkt sind wir gnadenlos. Dringt jemand in unsere physische Privatsphäre ein, ahnden wir dies sofort und ohne Erbarmen. Wenn man mir in der Kassenschlange zu dicht auf den Pelz rückt und meine Alarmglocken schrillen, muss ich denjenigen leider fragen, ob er vorhat, mir in den Arsch zu kriechen, denn genau dorthin wollte er ja offensichtlich. Und wenn man mir blöd kommt, muss ich denjenigen zu einer Schlägerei auf dem Parkplatz herausfordern, so leid es mir tut.
    Das Dumme ist nur, dass ich in eine Familie eingeheiratet habe, in der es an der Tagesordnung ist, sich gegenseitig eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen oder einen Klecks Marmelade oder Erdnussbutter von der Wange zu wischen. In meiner Familie hingegen üben wir uns schon sehr früh im »Du hast da etwas im Gesicht. Da. Nein, da!«-Spiel, nur um bloß keinen Körperkontakt herstellen zu müssen.
    »Was war denn das?«, fragte ich, als ich das erste Mal mitbekam, wie mein Zukünftiger und seine Mutter sich beim Abschied eine halbe Ewigkeit – länger als in mancher Sitcom – in den Armen lagen. »Das ist ja fast so, als würdest du in den Krieg ziehen.«
    Mein Mann zuckte nur die Achseln. »Die Dame umarmt nun mal gern«, sagte er nur, was mich mit der Frage zurückließ, was seine Familie so berührungsfreudig und meine eigene so berührungsfeindlich machte.
    Eines Abends war ich auf dem Laufband und sah mir eine Wissenschaftssendung im Fernsehen an, die ich ausnahmsweise sogar mal kapierte. Mein Mann hatte sich ins Wohnzimmer verzogen und sah sich dieselbe Sendung an. Es ging um irgendwelche Wissenschaftler in Montreal, die sich mit der Entschlüsselung eines Epigenoms und der Frage beschäftigten, wie es auf Erfahrungen in unserem Umfeld reagierte. Das Epigenom reagiert nämlich nicht nur auf die Erfahrungen, sondern die Erfahrungen selbst verändern es, indem sie bestimmte Gene aktivieren oder deaktivieren. Die Theorie wurde anhand von zwei Rattentypen untersucht – Muttertieren, die ihre Nachkommen direkt nach der Geburt trocken leckten, und solche, die es nicht taten. Die Nachkommen der leckenden Mütter bewältigten mit großem Geschick Labyrinthe, legten ein insgesamt ruhiges Verhalten an den Tag und fraßen nicht alle Bonbons auf einmal aus der Schüssel. Die Nachkommen der Mütter, die lieber Kaffee tranken, rauchten und pausenlos telefonierten, waren hingegen ängstlich, nervös, versagten bei Puzzles und wurden fett, weil sie die Finger nicht von den Bonbons lassen konnten.
    Ich erinnere mich nicht einmal, dass ich das Laufband angehalten hatte, denn ehe ich mich’s versah, stieß ich in der Diele beinahe mit meinem Ehemann zusammen.
    »Ich bin das Kind einer Mutter, die nicht geleckt hat«, rief ich.
    »Du hast eine Mutter, die nicht geleckt hat«, rief er in derselben Sekunde.
    Plötzlich war alles klar. Das abrupte Zurückreißen meiner Hand. Die Nervosität. Das Shirt mit Pu der Bär drauf. Die Aversion gegen hohe Mauern und scharfe Ecken. Die Aufforderungen, sich auf dem Parkplatz zu prügeln. All diese Symptome ergaben auf einmal einen Sinn. Ich hatte eine Mutter, die nicht geleckt hatte, deshalb war bei mir das entsprechende Gen ausgeschaltet, und ich war nichts anderes als eine hypernervöse, Bonbons fressende Laborratte, die keinerlei Berührung ertragen kann, selbst wenn sie sie umsonst bekommt.
    Insofern klang es einleuchtend, dass ich, falls mein Umfeld irgendwelche Gene deaktiviert hatte, ich sie wieder würde aktivieren können. Ich beschloss, es langsam anzugehen und es erst einmal mit ein paar kleinen Umarmungen zu versuchen. Ich umarmte meine Nachbarin Louise, als ihr Hund gestorben war, was ziemlich gut lief. Ich umarmte meinen Freund Joe, mit dem ich mich nach fünfzehn Jahren das erste Mal wieder zum Abendessen traf. Sie müssen verstehen, dass ich mich noch im Umarmungsanfängerstadium befand und versuchte, nicht allzu überhastet vorzugehen. Ich schloss andere Menschen nicht fest in die Arme und drückte sie innig an mich, sondern ließ es eher locker angehen. Meine Umarmungen hatten einen vorgegebenen Zeitrahmen. Einundzwanzig – zweiundzwanzig. Ich machte brav weiter, auch wenn ich nicht behaupten kann, dass die Umarmungen mein Leben drastisch veränderten und eine Laborratte mit leckender Mutter aus mir machten. Ich ging auf Nummer sicher und beschränkte meine Aktivitäten eher auf meine Familie und mein unmittelbares Umfeld, bis mich eines Tages gewissermaßen
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