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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
Autoren: Sara Gruen
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Eltern eine Hypothek gebraucht
hätten: um meine Ausbildung an einer Elite-Universität zu bezahlen.
    Diese plötzliche Erkenntnis trifft mich mit so schmerzhafter Wucht,
dass ich die Hände auf den Magen presse und zusammenklappe.
    Da mir nichts Besseres einfällt, kehre ich nach Ithaca zurück –
bestenfalls eine vorübergehende Lösung. Kost und Logis sind zwar bis zum Ende
des Universitätsjahrs bezahlt – aber das ist bereits in sechs Tagen.
    Ich habe die komplette Repetitoriumswoche verpasst. Alle wollen mir
unbedingt helfen. Catherine gibt mir ihre Mitschrift, und ihre anschließende
Umarmung legt nahe, dass meine üblichen Bestrebungen diesmal ein anderes
Ergebnis erzielen könnten. Ich mache mich von ihr los. Zum ersten Mal seit
Menschengedenken interessiere ich mich nicht für Sex.
    Ich kann nicht essen. Ich kann nicht schlafen. Und ich kann ganz
entschieden nicht lernen. Eine Viertelstunde lang starre ich auf einen
Textabschnitt, aber ich verstehe ihn nicht. Wie könnte ich auch, wo ich doch
hinter den Wörtern, auf dem weißen Papiergrund, in einer Endlosschleife den Tod
meiner Eltern sehe? Wo ich doch beobachte, wie ihr cremefarbener Buick die
Leitplanke durchbricht und von der Brücke stürzt, weil er dem roten Lastwagen
des alten Mr. McPherson ausgewichen ist? Des alten Mr. McPherson, der, als er
von der Unfallstelle weggebracht wurde, zugab, er sei nicht ganz sicher, auf
welcher Straßenseite er hätte fahren sollen, und der glaubt, er habe vielleicht
auf das Gas statt auf die Bremse getreten? Des alten Mr. McPherson, der an
einem denkwürdigen Ostertag ohne Hose in der Kirche erschien?
    Der Aufsichtsführende schließt die Tür und setzt sich. Er
beobachtet die Wanduhr, bis der Minutenzeiger vorrückt.
    »Sie dürfen anfangen.«
    Zweiundfünfzig Prüfungsmappen werden aufgeschlagen. Einige blättern
sie durch, andere fangen direkt an zu schreiben. Ich mache keines von beidem.
    Vierzig Minuten später habe ich noch keinen Strich auf das Papier
gebracht. Ich starre die Mappe verzweifelt an. Da stehen Diagramme, Nummern,
Linien und Tabellen – Wortketten mit Satzzeichen am Ende – manchmal mit
Punkten, manchmal mit Fragezeichen, und nichts ergibt einen Sinn. Einen Moment
lang frage ich mich, ob das überhaupt Englisch ist. Ich versuche es mit
Polnisch, aber auch das funktioniert nicht. Es könnten genauso gut Hieroglyphen
sein.
    Eine Frau hustet, und ich zucke zusammen. Eine Schweißperle tropft
von meiner Stirn auf die Mappe. Ich wische sie mit dem Ärmel weg, dann hebe ich
die Mappe an.
    Vielleicht muss ich sie näher an die Augen halten. Oder weiter weg –
jetzt erkenne ich, dass der Text auf Englisch geschrieben ist, oder besser
gesagt, ich erkenne die einzelnen Wörter als englisch, aber ich kann sie nicht
als zusammenhängendes Ganzes lesen.
    Eine zweite Schweißperle.
    Ich sehe mich im Raum um. Catherine, der das hellbraune Haar ins
Gesicht fällt, schreibt eifrig. Sie ist Linkshänderin, und weil sie einen
Bleistift benutzt, glänzt ihr linker Arm vom Handgelenk bis zum Ellbogen
silbrig. Edward neben ihr zuckt hoch, schaut panisch auf die Uhr und sackt
wieder über seiner Mappe zusammen. Ich wende mich ab, zum Fenster hin.
    Durch das Laub lugen Himmelsfetzen, ein Mosaik aus Blau und Grün,
das sich sanft im Wind wiegt. Ich starre wie gebannt darauf, mein Blick
verschwimmt, und ich sehe hinter die Blätter und Zweige. Ein feistes
Eichhörnchen springt mit buschig aufgerichtetem Schwanz durch mein Blickfeld.
    Mit lautem Quietschen schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe auf.
Meine Stirn ist schweißbedeckt, mir zittern die Finger. Zweiundfünfzig Köpfe
drehen sich zu mir um.
    Ich sollte diese Menschen kennen, und bis vor einer Woche kannte ich
sie auch. Ich wusste, wo ihre Familien wohnten. Ich wusste, was für Berufe ihre
Väter hatten. Ich wusste, ob sie Geschwister hatten und ob sie sie mochten.
Verdammt, ausgerechnet diejenigen, die nach dem Börsenkrach abgehen mussten,
fallen mir ein: Henry Winchester, dessen Vater vom Dach der Chicagoer Börse
gesprungen war. Alistair Barnes, dessen Vater sich in den Kopf geschossen
hatte. Reginald Monty mit seinem erfolglosen Versuch, in einem Auto zu wohnen,
nachdem seine Familie nicht mehr für Kost und Logis aufkommen konnte. Bucky
Hayes, dessen arbeitsloser Vater einfach abgehauen war. Aber diese Menschen,
die Leute, die hier geblieben sind? Nichts.
    Mit wachsender Verzweiflung sehe ich in ihre konturlosen Gesichter,
in ein leeres Oval nach
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