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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
Autoren: Sara Gruen
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nichts mehr zu
machen.«
    Ich starre ihm ins Gesicht, will den Blickkontakt halten, aber das
fällt mir schwer. Er entfernt sich immer weiter, bis ans Ende eines langen,
schwarzen Tunnels, an dessen Wänden Sterne explodieren.
    »Geht es Ihnen gut, Junge?«
    »Was?«
    »Geht es Ihnen gut?«
    Plötzlich steht er wieder direkt vor mir. Ich blinzle und frage
mich, was er meint. Wie zum Teufel könnte es mir gut gehen? Dann wird mir klar,
dass er fragt, ob ich weinen werde.
    Er räuspert sich und spricht weiter. »Sie müssen heute noch nach
Hause fahren. Um sie zu identifizieren. Ich bringe Sie zum Bahnhof.«
    Der Polizeipräsident – ein Mitglied unserer Kirchengemeinde –
erwartet mich in Zivil auf dem Bahnsteig. Er begrüßt mich mit einem
unbeholfenen Nicken und einem verkrampften Handschlag. Als wäre ihm der Gedanke
erst nachträglich gekommen, zieht er mich in eine heftige Umarmung. Er klopft
mir kräftig auf den Rücken und schiebt mich mit einem Schniefen wieder von
sich. Dann fährt er mich in seinem eigenen Wagen zum Krankenhaus, einem zwei
Jahre alten Phaeton, der ein Vermögen gekostet haben muss. Die Leute hätten
vieles anders gemacht, wenn sie gewusst hätten, was in jenem schicksalhaften
Oktober geschehen würde.
    Der Leichenbeschauer führt uns ins Untergeschoss, wo er durch eine
Tür schlüpft, während wir im Gang warten. Etwas später fordert uns eine
Schwester wortlos auf einzutreten, indem sie uns die Tür aufhält.
    Der Raum hat keine Fenster. Bis auf eine Uhr sind die Wände kahl.
Auf dem Boden liegen Linoleumfliesen in Olivgrün und Weiß, und in der Mitte
stehen zwei Bahren. Auf jeder liegt eine mit einem Tuch bedeckte Leiche. Ich
begreife rein gar nichts. Ich erkenne nicht einmal, wo Kopf- und Fußende sind.
    »Sind Sie so weit?«, fragt der Leichenbeschauer, als er zwischen sie
tritt.
    Ich schlucke und nicke. Eine Hand legt sich mir auf die Schulter. Es
ist die des Polizeipräsidenten.
    Der Leichenbeschauer deckt erst meinen Vater auf, dann meine Mutter.
    Sie sehen nicht wie meine Eltern aus, und doch müssen sie es wohl
sein. Alles an ihnen kündet vom Tod – die verfärbten Flecken auf ihren
geschundenen Leibern, die sich blauviolett auf der blutleeren, weißen Haut
abzeichnen, die eingesunkenen Augen. Meine Mutter, die im Leben so hübsch und
gepflegt war, hat im Tod eine starre Grimasse. Ihr Haar drückt sich verfilzt
und blutdurchtränkt in das Loch in ihrem zerstörten Schädel. Ihr Mund steht
offen, das Kinn ist herabgesunken, als würde sie schnarchen.
    Ich wende mich ab, als mir Erbrochenes aus dem Mund schießt. Jemand
hält mir eine Nierenschale hin, aber der Schwall geht darüber hinaus, und ich
höre es feucht auf den Boden klatschen und gegen die Wand spritzen. Ich höre
es, denn meine Augen sind fest geschlossen. Ich übergebe mich immer wieder, bis
nichts mehr da ist. Zusammengekrümmt würge ich, bis ich mich frage, ob man
wirklich sein Innerstes nach außen kehren kann.
    Sie bringen mich raus und verfrachten mich auf einen Stuhl. Eine
freundliche Krankenschwester in einer gestärkten weißen Uniform holt mir einen
Kaffee, der auf dem Tisch neben mir kalt wird.
    Später kommt der Kaplan und setzt sich zu mir. Er fragt, ob er
irgendwen anrufen soll. Ich antworte matt, dass alle meine Verwandten in Polen
leben. Er fragt nach Nachbarn und Mitgliedern unserer Kirche, aber um nichts in
der Welt will mir ein Name einfallen. Kein einziger. Ich bin nicht sicher, ob
ich meinen eigenen Namen wüsste.
    Nachdem er gegangen ist, stehle ich mich davon. Bis zu unserem Haus
sind es gute drei Kilometer, und ich komme dort an, als das letzte Stück Sonne
hinter dem Horizont versinkt.
    Die Auffahrt ist leer. Natürlich.
    Im Garten hinter dem Haus bleibe ich stehen und starre, die
Reisetasche in der Hand, auf das langgestreckte, flache Gebäude im Hof. Über
dem Eingang hängt ein neues Schild mit schwarzglänzender Schrift:
    E. JANKOWSKI UND SOHN
    Veterinärmediziner
    Nach einer Weile drehe ich mich zum Haus um, steige die Veranda
hinauf und öffne die Hintertür.
    Der ganze Stolz meines Vaters, sein Philco-Radio, steht auf der
Arbeitsplatte in der Küche. Der blaue Pullover meiner Mutter hängt über einer
Stuhllehne. Auf dem Küchentisch liegen gebügelte Laken, daneben steht eine Vase
mit welkenden Veilchen. Eine umgedrehte Schüssel, zwei Teller und eine Handvoll
Besteck liegen zum Trocknen auf einem karierten Küchentuch neben der Spüle.
    Heute Morgen hatte ich Eltern. Heute Morgen
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