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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
Autoren: Sara Gruen
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dem anderen. Ich höre einen tiefen, erstickten Laut und
merke, er stammt von mir. Ich ringe nach Luft.
    »Jacob?«
    Das Gesicht, das mir am nächsten ist, hat einen Mund, der sich
bewegt. Die Stimme klingt schüchtern und unsicher. »Geht’s dir gut?«
    Ich blinzle, mir verschwimmt alles vor Augen. Dann durchquere ich
den Raum und werfe dem Aufsichtsführenden die Prüfungsmappe auf den
Schreibtisch.
    »Schon fertig?«, fragt er, als er die Hand danach ausstreckt. Auf
dem Weg zur Tür höre ich Papier rascheln. »Warten Sie!«, ruft er mir nach. »Sie
haben ja nicht einmal angefangen! Sie dürfen nicht gehen. Wenn Sie gehen, kann
ich Sie nicht …«
    Die Tür verschluckt seine letzten Worte. Während ich durch den
Innenhof gehe, sehe ich zum Büro von Dekan Wilkins hinauf. Er steht am Fenster
und beobachtet mich.
    Ich gehe bis zum Stadtrand, schwenke dort ab und folge den
Eisenbahnschienen. Ich gehe, bis es dunkel ist und der Mond hoch am Himmel
steht, und dann laufe ich noch stundenlang weiter. Ich laufe, bis mir die Beine
schmerzen und meine Füße Blasen bekommen. Und dann bleibe ich stehen, weil ich
müde bin und hungrig und keine Ahnung habe, wo ich bin. Als wäre ich schlafgewandelt,
aufgewacht und hätte mich plötzlich hier wiedergefunden.
    Das einzige Anzeichen von Zivilisation sind die Schienen, die auf
einem aufgeschütteten Schotterbett verlaufen. Auf ihrer einen Seite befindet
sich Wald, auf der anderen eine kleine Lichtung. Irgendwo in der Nähe höre ich
Wasser plätschern. Im Mondlicht suche ich mir einen Weg dorthin.
    Der Bach ist höchstens einen Meter breit. Er verläuft am anderen
Ende der Lichtung entlang den ersten Bäumen, bevor er im Wald verschwindet. Ich
streife mir Schuhe und Socken ab und setze mich ans Ufer.
    Als ich die Füße ins eisige Wasser tauche, ist der Schmerz zuerst so
stark, dass ich sie mit einem Ruck wieder herausziehe. Ich lasse nicht locker
und tauche sie immer wieder und immer länger unter, bis die Blasen schließlich
durch die Kälte taub werden. Mit den Fußsohlen berühre ich den steinigen Grund
und lasse das Wasser zwischen meinen Zehen durchfließen. Nach einer Weile ist
es die Kälte selbst, die wehtut, und ich lege mich am Ufer auf den Rücken, den
Kopf auf einen flachen Stein gebettet, während meine Füße trocknen.
    In der Ferne erklingt das Heulen eines Kojoten. Das Geräusch klingt
zugleich einsam und vertraut, und mit einem Seufzer lasse ich die Augen
zufallen. Als es von einem Jaulen nur wenige Meter zu meiner Linken beantwortet
wird, setze ich mich abrupt auf.
    Der Kojote, der weiter weg ist, heult erneut, und diesmal antwortet
ihm das Pfeifen eines Zuges. Ich ziehe Socken und Schuhe an, stehe auf und
starre auf den Rand der Lichtung.
    Der Zug kommt jetzt näher, er rattert und rumpelt auf mich zu: RATTER -da-ratter-da-ratter-da-ratter-da, RATTER -da-ratter-da-ratter-da-ratter-da, RATTER -da-ratter-da-ratter-da-ratter-da.
    Ich wische mir die Hände an der Hose ab, gehe auf die Gleise zu und
bleibe ein paar Schritte vor ihnen stehen. Der beißende Gestank von Öl steigt
mir in die Nase. Wieder gellt die Pfeife …
    Uuuiiiiiiiiiii –
    Eine riesige Lok schießt um die Kurve und rast an mir vorbei, so
groß und so nah, dass mir der Wind wie eine Mauer entgegenschlägt. Sie stößt
dicht wallende Rauchwolken aus, ein breites, schwarzes Band, das über die
nachfolgenden Wagen zieht. Der Anblick, der Lärm und der Gestank sind
ungeheuer. Überwältigt sehe ich ein halbes Dutzend Flachwagen, die offenbar
Fuhrkarren geladen haben; allerdings kann ich sie nicht deutlich sehen, weil
der Mond hinter einer Wolke verschwunden ist.
    Plötzlich erwache ich aus meiner Benommenheit. In diesem Zug sind
Menschen. Es ist vollkommen egal, wohin er fährt, denn es geht auf jeden Fall
weg von den Kojoten und in Richtung Zivilisation, Essen, möglicherweise Arbeit
– vielleicht sogar zurück an die Uni nach Ithaca, obwohl ich keinen lausigen
Cent habe und sie keinen Grund, mich wieder aufzunehmen. Und selbst wenn sie es
tun, habe ich kein Zuhause, in das ich heimkehren, keine Praxis, in der ich
mitarbeiten könnte.
    Weitere Flachwagen rasen vorbei, diese sind offenbar mit
Telefonmasten beladen. Ich sehe weiter nach hinten und versuche zu erkennen,
was danach kommt. Der Mond tritt einen Augenblick lang hinter den Wolken hervor
und taucht etwas in sein bläuliches Licht, das Güterwagen sein könnten.
    Ich laufe los, mit dem fahrenden Zug mit. Auf dem ansteigenden
Schotterbett
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