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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
Autoren: Sara Gruen
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Mitte der Menagerie war dem Boden
gleichgemacht worden, an seiner Stelle wogten gefleckte und gestreifte Flanken,
Hufe, Schwänze und Klauen, alles knurrte, fauchte, brüllte oder wieherte. Ein Eisbär
überragte alles andere und schlug blindlings mit den tellergroßen Tatzen um
sich. Er erwischte ein Lama und warf es um – klatsch. Das Lama krachte zu Boden
und streckte Hals und Beine von sich wie die fünf Zacken eines Sterns.
Schimpansen hangelten sich schreiend und schnatternd an Seilen entlang, um
außer Reichweite der Raubkatzen zu bleiben. Ein Zebra schlug mit aufgerissenen
Augen Haken, dabei kam es einem kauernden Löwen zu nahe, der nach dem Zebra
sprang, es verfehlte und dann dicht über dem Boden davonjagte.
    Verzweifelt suchte ich das Zelt nach Marlena ab, aber ich sah nur
eine Raubkatze durch den Verbindungsgang zum Chapiteau gleiten – es war ein
Panther, und als sein geschmeidiger, schwarzer Körper im Tunnel verschwand,
rechnete ich mit dem Schlimmsten. Wenn die Gadjos jetzt noch ahnungslos waren,
würde sich das bald ändern. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann kam er –
der erste langgezogene Schrei, dann noch einer und noch einer, und schließlich
explodierte alles unter dem Donnern der Menschen, die versuchten, an den
anderen vorbei und das Gradin hinunterzugelangen. Das Orchester brach ein
zweites Mal kreischend ab, diesmal blieb es still. Ich schloss die Augen: Gott, lass sie bitte hinten raus
fliehen. Bitte, Gott, sie dürfen es nicht hier vorne versuchen .
    Ich machte die Augen wieder auf und suchte weiter verzweifelt die
Menagerie nach ihr ab. Wie schwer kann es denn sein, einen Elefanten und ein
Mädchen zu finden, verdammt!
    Als ich ihre pinkfarbenen Pailletten sah, schrie ich vor
Erleichterung beinahe auf – vielleicht tat ich es sogar. Ich weiß es nicht
mehr.
    Sie stand mir gegenüber vor der Rundleinwand, so ruhig wie ein
Bergsee. Ihre Pailletten glitzerten wie flüssige Diamanten, wie ein funkelndes
Leuchtfeuer zwischen den bunten Fellen. Sie sah mich ebenfalls, und wir
blickten einander eine Ewigkeit in die Augen. Sie wirkte gelassen und träge.
Und lächelte sogar. Ich wollte mir einen Weg zu ihr bahnen, aber etwas in ihrer
Miene ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben.
    Vor ihr stand dieser Dreckskerl, er drehte ihr den Rücken zu,
brüllte mit hochrotem Kopf und schwang seinen Stock mit der Silberspitze. Sein
Seidenzylinder lag neben ihm im Stroh.
    Sie griff nach etwas. Eine Giraffe rannte zwischen uns hindurch –
selbst in der Panik bewegte sich ihr Hals anmutig –, und als ich wieder freie
Sicht hatte, erkannte ich, dass sie eine Eisenstange gepackt hielt. Sie
umfasste sie ganz locker, das eine Ende ließ sie auf dem Boden aufliegen. Sie
sah mich wieder an, tief in Gedanken. Dann richtete sie den Blick auf seinen
bloßen Hinterkopf.
    »Großer Gott.« Plötzlich verstand ich. Ich stolperte schreiend vorwärts,
obwohl meine Stimme sie auf keinen Fall erreichen konnte. »Tu das nicht! Tu das nicht! «
    Sie hob die Stange und schlug zu, dabei spaltete sie seinen Kopf wie
eine Wassermelone. Sein Schädel platzte, er riss die Augen auf, und sein Mund
erstarrte zu einem O. Dann fiel er auf die Knie und kippte vornüber ins Stroh.
    Ich war so benommen, dass ich mich nicht rühren konnte, noch nicht
einmal, als mir ein junger Orang-Utan seine geschmeidigen Arme um die Beine
schlang.
    So lange ist es her. So lange. Und es verfolgt mich noch immer.
    Ich rede nicht oft über damals. Habe ich noch nie. Ich weiß
nicht, warum – fast sieben Jahre lang habe ich beim Zirkus gearbeitet, und wenn
das keinen Gesprächsstoff liefert, was dann.
    Ehrlich gesagt weiß ich, warum. Ich habe mir nie getraut. Ich hatte
Angst, es würde mir herausrutschen. Ich wusste, wie wichtig es war, ihr
Geheimnis zu hüten, und das tat ich auch – ihr Leben lang und darüber hinaus.
    Siebzig Jahre lang habe ich keiner Menschenseele davon erzählt.

Eins
    Ich bin neunzig. Oder dreiundneunzig. So oder so.
    Wenn man fünf ist, weiß man auf den Monat genau, wie alt man ist.
Auch in den Zwanzigern weiß man noch, wie alt man ist. Ich bin dreiundzwanzig,
sagt man, oder: Ich bin siebenundzwanzig. Aber dann, so ab dreißig, geschieht
etwas Seltsames. Anfangs ist es nicht mehr als ein Stolpern, ein kurzes Zögern.
Wie alt bist du? Oh, ich bin … – man fängt zuversichtlich an, aber dann gerät
man ins Stocken. Man wollte sagen dreiunddreißig, aber das stimmt nicht.
Fünfunddreißig wäre richtig. Und das
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