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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
Autoren: Sara Gruen
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beunruhigt einen, denn man fragt sich, ob
das der Anfang vom Ende ist. Genau das ist es, aber es dauert noch Jahrzehnte,
bis man es zugibt.
    Man fängt an, Wörter zu vergessen: Sie liegen einem auf der Zunge,
aber anstatt sich schließlich von ihr zu lösen, bleiben sie kleben. Man geht
nach oben, um etwas zu holen, und wenn man dort angekommen ist, weiß man nicht
mehr, was man wollte. Man spricht sein Kind mit den Namen aller anderen Kinder
und sogar mit dem des Hundes an, bevor einem der richtige einfällt. Manchmal
vergisst man, welcher Tag gerade ist. Und schließlich vergisst man das Jahr.
    Eigentlich habe ich es gar nicht vergessen. Man könnte eher sagen,
ich habe nicht mehr darauf geachtet. Die Jahrtausendgrenze haben wir
überschritten, so viel weiß ich – das ganze Tamtam wegen gar nichts, überall
junge Leute, die ängstlich losschnattern und Konservendosen kaufen, weil
irgendwer zu faul war, vier statt nur zwei Ziffern vorzusehen –, aber das
könnte letzten Monat oder vor drei Jahren gewesen sein. Und außerdem, was macht
es denn schon? Wo ist der Unterschied zwischen drei Wochen oder drei Jahren
oder sogar drei Jahrzehnten Erbsenpüree, Tapioka und Windelhöschen?
    Ich bin neunzig. Oder dreiundneunzig. So oder so.
    Entweder hat es einen Unfall gegeben, oder draußen ist eine
Baustelle, denn eine Schar alter Damen steht wie gebannt vor dem Fenster am
Ende des Flurs, wie Kinder oder Knastschwestern. Sie sind feingliedrig und
zerbrechlich, ihr Haar ist so zart wie Nebel. Die meisten von ihnen sind gut
zehn Jahre jünger als ich, und das erstaunt mich. Auch wenn der Körper einen
verrät, der Geist will es nicht wahrhaben.
    Ich parke im Flur, neben mir meine Gehhilfe. Seit meinem Hüftbruch
habe ich Gott sei Dank gute Fortschritte gemacht. Eine Zeit lang sah es so aus,
als könnte ich nie wieder gehen – deswegen habe ich mich überhaupt überreden
lassen, hierher zu ziehen –, aber jetzt stehe ich alle paar Stunden auf und
mache ein paar Schritte, und jeden Tag komme ich ein Stückchen weiter, bevor
ich umkehren muss. Es steckt doch noch Leben in diesen alten Knochen.
    Jetzt stehen schon fünf weißhaarige alte Damen da, zusammengedrängt
deuten sie mit gekrümmten Fingern auf die Scheibe. Ich warte einen Moment ab,
ob sie wieder gehen, aber sie bleiben.
    Ich schaue nach unten, um zu sehen, ob meine Bremsen angezogen sind,
stehe vorsichtig auf und halte mich an der Armlehne meines Rollstuhls fest,
während ich den Wechsel zur Gehhilfe wage. Sobald ich ordentlich stehe,
umklammere ich die grauen Gummipolster an den Handgriffen und schiebe die
Gehhilfe vorwärts, bis meine Ellbogen durchgedrückt sind, damit schaffe ich genau
eine Bodenfliese. Ich ziehe den linken Fuß nach vorne, passe auf, dass ich
sicher stehe, und ziehe dann den anderen Fuß nach. Schieben, ziehen, warten,
ziehen. Schieben, ziehen, warten, ziehen.
    Der Flur ist lang, und meine Füße wollen nicht mehr so wie früher.
Zum Glück habe ich nicht die Lähmung, die Camel hatte, aber ich bin trotzdem
langsam. Der arme, alte Camel – ich habe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht.
Seine Füße schlackerten so kraftlos, dass er die Knie hoch anheben und nach
vorne schleudern musste. Ich schlurfe, als hätte ich Gewichte an den Füßen, und
weil mein Rücken krumm ist, schaue ich ständig auf meine Hausschuhe zwischen
den Beinen der Gehhilfe.
    Es dauert seine Zeit, bis ich das Flurende erreiche, aber ich
schaffe es – und zwar auf eigenen Füßen. Ich freue mich wie ein Schneekönig,
aber als ich da bin, fällt mir auf, dass ich es auch wieder zurück schaffen
muss.
    Die alten Damen machen mir Platz. Sie gehören zu den Agilen, sie
sind entweder selbst noch mobil oder haben Freundinnen, die sie herumfahren.
Diese alten Mädels sind noch ganz klar im Kopf, und sie sind nett zu mir. Ich
bin hier eine Seltenheit – ein alter Mann in einem Meer von Witwen, die sich
noch immer nach ihren verstorbenen Männern sehnen.
    »Oh, hier«, gurrt Hazel. »Lasst Jacob mal sehen.«
    Sie zieht Dollys Rollstuhl ein Stück zurück und schlurft
händeringend neben mich, ihre trüben Augen strahlen. »Ach, ist das aufregend!
Sie sind schon den ganzen Morgen zugange.«
    Ich arbeite mich zum Fenster vor, hebe den Kopf und blinzle in die
Sonne. Es ist so hell, dass ich einen Augenblick brauche, um zu erkennen, was
da vor sich geht. Dann nehmen die Schemen Gestalt an.
    Im Park am Ende des Blocks steht ein riesiges Zelt mit breiten
weißroten Streifen und
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