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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
Autoren: Sara Gruen
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schiebt sie
mich den Flur entlang und biegt scharf in meine vier Wände ab. Sie stellt die
Bremsen so abrupt fest, dass der ganze Stuhl quietscht.
    »Dann gehe ich einfach zurück«, sage ich, als sie die Fußrasten
hochklappt.
    »Das lassen Sie schön bleiben«, entgegnet sie und stellt meine Füße
auf den Boden.
    »Das ist ungerecht!« Meine Stimme schlägt in ein Jammern um. »Ich
sitze schon ewig an dem Tisch. Er ist gerade einmal seit zwei Wochen da. Warum
sind alle auf seiner Seite?«
    »Niemand ist auf irgendeiner Seite.« Sie beugt sich vor, um mich
unterhalb der Arme zu umgreifen. Als sie mich hochhebt, sind unsere Köpfe
direkt nebeneinander. Ihr Haar ist chemisch geglättet, und es riecht nach
Blumen. Nachdem sie mich auf die Bettkante gesetzt hat, habe ich ihren
rosafarbenen Busen direkt auf Augenhöhe. Und ihr Namensschild.
    »Rosemary«, sage ich.
    »Ja, Mr. Jankowski?«
    »Er lügt wirklich, wissen Sie.«
    »Das weiß ich keineswegs. Und Sie auch nicht.«
    »Doch, ich schon. Ich war mal dabei.«
    Sie blinzelt irritiert. »Wie meinen Sie das?«
    Zögernd überlege ich es mir anders. »Schon gut.«
    »Haben Sie beim Zirkus gearbeitet?«
    »Ich sage doch, schon gut.«
    Einen Herzschlag lang herrscht unangenehmes Schweigen.
    »Wissen Sie, Mr. McGuinty hätte sich ernsthaft verletzen können«,
sagt sie, während sie meine Beine zurechtlegt. Sie arbeitet rasch und
effizient, aber nicht hastig.
    »Der doch nicht. Anwälte sind nicht kleinzukriegen.«
    Sie starrt mich lange an und nimmt mich plötzlich als richtigen
Menschen wahr. Einen Augenblick lang meine ich, einen Riss in der Fassade zu
spüren, bevor sie wieder geschäftig wird. »Geht Ihre Familie am Wochenende mit
Ihnen in den Zirkus?«
    »Oh, ja«, sage ich recht stolz. »Sonntags kommt immer jemand.
Pünktlich wie ein Uhrwerk.«
    Sie schüttelt eine Decke aus und legt sie mir über die Beine. »Soll
ich Ihr Abendessen holen?«
    »Nein«, antworte ich.
    In der betretenen Stille wird mir klar, dass ich ein »danke« hätte
hinzufügen sollen, aber jetzt ist es zu spät.
    »Na gut«, sagt sie, »ich komme später wieder und sehe nach, ob Sie
noch etwas brauchen.«
    Sicher. Ganz bestimmt. Das sagen sie immer.
    Aber Teufel noch eins, hier ist sie.
    »Erzählen Sie es niemandem«, sagt sie, als sie hereinstürmt und
meinen kombinierten Ess- und Frisiertisch über mein Bett schiebt. Sie legt eine
Papierserviette hin, eine Plastikgabel und ein Schälchen mit Obst, das richtig
verlockend aussieht, Erdbeeren, Melone und Apfel. »Das habe ich mir für die
Pause mitgenommen. Ich mache Diät. Mögen Sie Obst, Mr. Jankowski?«
    Ich würde ja antworten, aber meine Hand liegt auf meinem Mund, und
sie zittert. Großer Gott, Apfel.
    Sie tätschelt mir die andere Hand und geht, meine Tränen taktvoll
ignorierend, hinaus.
    Ich schiebe mir ein Stück Apfel in den Mund und schmecke genüsslich
den Saft. Die brummende Neonlampe über mir wirft ein scharfes Licht auf die
krummen Finger, mit denen ich Obststücke aus dem Schälchen klaube. Sie sehen so
fremd aus. Das können doch nicht meine Finger sein.
    Das Alter ist ein grausamer Dieb. Gerade wenn man das Leben halbwegs
begreift, holt es einen von den Beinen und beugt einem den Rücken. Es bringt
Schmerz und Verwirrtheit mit sich und lässt im Körper der eigenen Frau
klammheimlich Krebs wuchern.
    Metastatisch, hat der Arzt gesagt. Eine Frage von Wochen oder
Monaten. Doch mein Liebling war so zart wie ein Spatz. Sie starb neun Tage
später. Nach einundsechzig gemeinsamen Jahren umklammerte sie einfach meine Hand
und verlosch.
    Auch wenn ich manchmal alles darum geben würde, sie wiederzuhaben,
bin ich froh, dass sie als Erste gegangen ist. Als ich sie verlor, zerriss es
mich. In diesem Augenblick war für mich alles zu Ende, und ich hätte nicht
gewollt, dass sie das durchmachen muss. Übrig zu bleiben ist widerlich.
    Früher dachte ich, das Alter sei besser als seine Alternative, aber
mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher. Manchmal sind Bingo und Singstunden
und uralte, angestaubte Menschen, die man in ihren Rollstühlen im Flur
abstellt, so eintönig, dass ich mich nach dem Tod sehne. Vor allem, wenn mir
wieder einfällt, dass ich einer dieser uralten, angestaubten Menschen bin,
abgeladen wie wertloser Krempel.
    Aber daran ist nichts zu ändern. Ich kann nur noch auf das
Unvermeidliche warten und dabei die Geister der Vergangenheit im Auge behalten,
wenn sie durch meine stumpfe Gegenwart poltern. Sie lärmen und
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