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Die Wahrheit des Alligators

Die Wahrheit des Alligators

Titel: Die Wahrheit des Alligators
Autoren: Massimo Carlotto
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A ls ich sie eintreten sah, im teuren Kostüm und mit steifem Aktenköfferchen, war mir sofort klar, daß ich einen Teil des Konzerts von Cooper Terry, das eben anfing, verpassen würde.
    Das Lokal, in dem ich mich befand – das Noisebar Banale –, war nur schwach vom bunten Neonlicht der verschiedenen Bierreklamen beleuchtet. Es war ein Keller, der sich zum bestbesuchten Club Paduas gemausert hatte, beim Portello gelegen, in jenem Stadtteil, der früher mal ein munteres Halbweltviertel gewesen war, heute dagegen Zuflucht und Schlafstätte für pendelnde Profs und ewige Studenten: jede vierte Haustür ein Pizzasnack, jede zehnte ein Waschsalon, und überall haufenweise verrostete Fahrräder an die Pfosten der Straßenschilder gekettet.
    Ich hasse es, gestört zu werden, wenn ich guten Blues höre, aber damals kam das ziemlich häufig vor. Alle wußten, daß es nur einen Weg gab, mich zu finden: eine Runde durch die Lokale zu drehen. Mein Name war im Telefonbuch nicht zu finden, und niemand kannte meine Adresse. Viele Jahre früher – ich studierte noch – stand meine Wohnung in der Altstadt jedem offen, der sich an der Tür blicken ließ und erklärte, er brauchte eine Unterkunft. Eines Abends war da ein Typ mit römischem Akzent aufgekreuzt, mit Sporttasche und einem Gesicht, das ich schon mal gesehen hatte. Im Morgengrauen wurden wir festgenommen. Er sitzt noch immer, ich habe ihm sieben lange Jahre Gesellschaft geleistet. Um mit erheblich weniger davonzukommen, hätte ich bestimmte Protokolle unterschreiben und bestimmte Gesichter wiedererkennen müssen. Ich zog es vor zu schweigen. Ich ging nicht einmal zum Prozeß und überließ alles dem Pflichtverteidiger, einem schmächtigen Typen mit lebhaften, dunklen Augen und einem auffälligen Schnurrbart. Beide wußten wir, daß für mich nicht viel zu machen war. Richter und Journalisten nannten mich einen Unverbesserlichen. Ich dagegen stand weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Ich hatte ganz einfach nichts-zu sagen.
    Im Gefängnis sah und hörte ich weiterhin nichts. Dadurch wurde ich eine Art Guru, eine Respektsperson. Wenn es also ein Problem gab, kamen sie zu mir, und ich mußte den Vermittler spielen. Ihre Knackistreitereien waren mir völlig egal, aber die internen Bandenkriege, in die sie unweigerlich ausarteten, machten einem das Leben schwer. Mir auch. Als ich draußen war, genoß ich weiterhin diesen guten Ruf. Eines Tages kam ein Rechtsanwalt zu mir, er wußte nicht, wie er beweisen sollte, daß sein Mandant, der angeklagt war, eine Bank überfallen zu haben, vollkommen unschuldig war. Da habe ich saubere Arbeit geleistet. Die wirklichen Täter entschlossen sich, die Beweise für die Unschuld des Angeklagten zu liefern, als sie mein Wort hatten, daß nie jemand ihre Identität aufdecken würde.
    Seitdem führe ich kleine Ermittlungen für Anwälte durch, die Verbindungen zur Unterwelt brauchen. Nur gegen Bezahlung natürlich.
    Alles gute Gründe, nicht überall bekannt zu machen, wo ich wohne. Nicht einmal bei Freunden.
    Aber mich zu finden, war nicht schwer, denn in der Szene wußte jeder, daß ich bei Blues-Konzerten nie fehlte. Bevor ich im Gefängnis landete, war ich Sänger in der Gruppe Old Red Alligators gewesen, und daher nannte man mich Alligator. Wir traten in den Clubs im Norden auf, und wir waren nicht schlecht. Ich begleitete meinen Blues auf dem Rubboard, einem Instrument, das man aus einem Stück Wellblech herstellt – auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Waschbrett -und das in der Zydeco-Musik der schwarzen Cajuns-Gruppen, der Nachfahren der Afroamerikaner aus Louisiana, immer dabei ist. Ich spielte es wie Cliveland Chenier mit einem Plektron, was meist bloß der Reißöffner einer Bierdose war, die man neben sich stehen hat, um sich die Kehle zu befeuchten, wenn man durstig ist. Unser bestes Stück war nach einem Gedicht von Assata Shakur:

    I must confess that waltzes
    do not move me.
    I have no sympathy
    for symphonies.
    I guess I hummed the Blues
    too early, and spent too many midnights
    out wailing to the rain.

    Ich kam aus dem Gefängnis und hatte keine Lust mehr zu singen oder zu spielen. Ich mag nur noch zuhören. Und weiterhin trinken. Jetzt ausschließlich Calvados. Das ist alles, was mir von einer Frau geblieben ist, die ich in Frankreich verloren habe. Früher trank ich alles, was in meine Reichweite kam, denn »man kann den Blues vom Alkohol abziehen, aber nicht den Alkohol vom Blues«. Aber während dieser
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