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Die Wahrheit des Alligators

Die Wahrheit des Alligators

Titel: Die Wahrheit des Alligators
Autoren: Massimo Carlotto
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beugte mich hinunter, um sie aus der Nähe zu betrachten: Die Zeiger standen auf 4 Uhr 36 oder 16 Uhr 36, und die Datumsanzeige zeigte den 28. Juni. Ich verglich sie mit meiner Uhr: Es war 23 Uhr 42 desselben Tages. Die Rolex mußte zwischen neunzehn und sieben Stunden zuvor stehengeblieben sein, je nachdem, ob es sich um Vormittag oder Nachmittag handelte, aber bei dem Zustand, in dem sich die Leiche befand, war klar, daß der Tod vor diesem Zeitraum eingetreten sein mußte. Vorsichtig nahm ich erst die unteren, dann die oberen Kissen weg und legte sie nacheinander neben den Körper. Ich bemerkte, daß sie von dem Sofa genommen worden waren, das an der linken Zimmerwand stand.
    Der Geruch drang durch das Parfüm hindurch, und ich glaubte, in Ohnmacht fallen zu müssen. Ich kehrte ins Bad zurück, um das Taschentuch noch einmal zu tränken, auf dem Etikett der Parfümflasche las ich: Rumba von Balenciaga. Wieder ging ich zur Leiche: Ich war wieder imstande, sie zu untersuchen. Mord, ohne allen Zweifel. Jede Menge Messerstiche: mehrere Dutzend am Rumpf, einer, mit unregelmäßigen Rändern, am Halsansatz. Sie durchlöcherten ein rot-weiß-gestreiftes kurzärmeliges T-Shirt unter einer schwarzen Weste aus sehr leichtem Stoff, dazu ein Paar weiße Hosen, gehalten von einem roten Gürtel. Auf der Höhe des Rückens tränkte ein großer Blutfleck das Gewebe und breitete sich auch auf dem elfenbeinfarbenen Teppichboden aus.
    Der Leib war aufgebläht wie der einer zu stark gestopften Puppe, das Gesicht violett angelaufen und in fortgeschrittenem Zustand der Verwesung. Die Augen quollen aus den Höhlen heraus, und im leicht geöffneten Mund stand eine schwärzliche Flüssigkeit. Der unregelmäßige Rand der Stichwunde am Hals war von weißen Pünktchen besetzt, die sich bei genauerem Hinsehen als Fliegenlarven erwiesen.
    Es war nicht die erste Leiche, die ich aus so großer Nähe betrachtete, aber noch nie hatte ich solchen Ekel verspürt. Mit einem Ruck stand ich auf und versuchte das Bild durch ein beliebiges anderes zu verscheuchen, aber mir kamen nur die Körper und Gesichter der Toten in den Sinn – ob Selbstmörder oder durch Streitereien zu Tode gekommene –, die ich im Knast gesehen hatte und die ich glaubte, schon lange vergessen zu haben. Dröhnend explodierte in meinem Kopf der Blues:

    You died.
    I cried
    and kept getting up,
    a little slower
    and a lot more deadly.

    Ich bedeckte die Leiche wieder mit den Kissen und sah mich in dem Raum um: Schreibtisch, Sessel, Sofa, Bücherregale an zwei Wänden, Stereoanlage und Plattensammlung mit klassischer Musik, drei Stehlampen, sehr vorteilhaft in den verschiedenen Ecken plaziert, eine Tischlampe auf dem Schreibtisch.
    Schöne Möbel: modern, eher teuer, vielleicht sogar Designermöbel, allesamt neu. Nur die Bücher und einige Platten sahen etwas abgegriffener aus.
    In einem kleinen Silberrahmen entdeckte ich ein Foto, ohne jeden Zweifel ein Bild des Opfers, und ich steckte es ein. Ich hätte mir gern auch den Rest des Hauses angesehen, aber die Uhr sagte mir, daß ich mich seit nunmehr zwanzig Minuten in Gesellschaft einer Leiche befand. Alle Sicherheitslimits waren überschritten. Ich verließ den Raum, nachdem ich das Licht ausgemacht und das Fenster wieder geöffnet hatte; beim Hinausgehen wischte ich noch alle Flächen ab, die ich versehentlich berührt haben konnte, und trat schließlich auf die Straße hinaus; erst dann nahm ich das Taschentuch vom Gesicht. Ich war derart schweißgebadet, daß die Luft, die durchs Wagenfenster hereinkam, mir heftige Schauder über den Körper jagte.

    Zuhause stopfte ich meine Kleider sofort in den Schmutzwäschekorb und stürzte unter die Dusche, in der Hoffnung, mich auf schnellstem Wege vom Gestank eines frühsommerlichen Mordes zu befreien. Unter dem Wasserstrahl, der heftig auf mich niederprasselte, begann ich meine Gedanken zu ordnen. Für die schöne Anwältin würde es eine böse Überraschung geben: Ihr Mandant hatte ein da capo eingelegt. Von wegen unschuldig. Wenn sie ihn kriegten, würden sie den Zellenschlüssel ins Klo werfen. So einer gehörte lebenslänglich eingesperrt. Aber ins Irrenhaus, nicht ins Gefängnis. Ich war wütend, nicht so sehr wegen des Mordes, als vielmehr wegen der Auswirkungen, die diese Nachricht für die Gefängnisinsassen haben würde. Ich malte mir schon die Schlagzeilen in den Zeitungen aus. Wenn ein Häftling eine Straftat begeht und dabei von den Vorteilen der Gefängnisreform
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