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Die Lady mit der Lanze

Die Lady mit der Lanze

Titel: Die Lady mit der Lanze
Autoren: Jocelyn Kelley
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    »Achtung!«
    Elspeth Braybrooke duckte sich, als ein zollstarker Stock über ihren Kopf hinwegsauste. Hätte er sie getroffen, wäre sie bewusstlos umgefallen, wenn der Schlag nicht sogar schlimmere Folgen gehabt hätte.
    Mit einem lauten Aufschrei schlug sie den Stock der Gegnerin beiseite, ehe er seine Bahn vollenden konnte. Eine rasche Drehung ihrer Waffe, und sie ließ ihre Hände zu einem Ende ihres fast sechs Fuß langen Kampfstockes gleiten, als sie sich aufrichtete. Ein Stöhnen ertönte, als sie mit aller Kraft den gegnerischen Stock traf. Sie verstärkte den Druck und ließ ihrer Gegnerin keine Chance, wieder in die Offensive zu gehen.
    Die Konturen des Stockes verschwammen vor ihren Augen, als sie ihn um ihre Gegnerin wirbelte, gegen deren Kniekehlen schlug und ihn nur so weit höher auftreffen ließ, dass ihre Schülerin zu Boden ging. Nun sprang sie auf die andere Seite des liegenden Mädchens und hielt den Stock zu beiden Seiten des Nackens mit den Händen fest, ohne den tödlichen Hieb auszuführen.
    Elspeth richtete sich auf und streckte die Hand aus, um ihrer Gegnerin auf die Beine zu helfen. Das Mädchen, dessen Gesicht vor Erregung und Anstrengung gerötet war, verbeugte sich.
    »Zeige mir, wie du diese Drehung machst, Schwester Elspeth.« Sie keuchte, ihre Augen leuchteten erwartungsvoll.
    Elspeth erwiderte die Verbeugung, ehe sie dem Mädchen und den fünf anderen, die zugesehen hatten, zulächelte. »Morgen, Schwester Dominique. Wenn wir länger verweilen, kommen wir zu spät zur Abendandacht. Die Sonne geht schon unter, der Gottesdienst beginnt bald, und du bist ermattet. Ein einziger Schwung mit dem Stock könnte dich glatt umwerfen.«
    Schwester Dominique fuhr sich mit dem Ärmel ihres Trainingskittels über die Stirn und durch das mit glänzenden Schweißperlen durchsetzte Haar. »Wenn du es der Äbtissin nicht meldest, wird ihr unsere Abwesenheit vielleicht gar nicht auffallen.«
    »Aber heute wird gesungen, und ich höre gar zu gern eine gesungene Messe. Und wenn die Äbtissin entdeckt, dass du die Messe in der Fastenzeit versäumst, wäre sie von dir sehr enttäuscht.«
    »Das stimmt«, sagte Schwester Dominique, die das Gesicht verzog und dann lachte.
    »Rasch, erfrisch dich ein wenig. Wir treffen uns in der Kapelle. Ich möchte vom Gesang nichts verpassen.« Sie deutete mit dem Stock zur Kapelle, einem anmutigen Bau mit Bogenfenstern und einem hoch zum Himmel aufragenden Glockenturm, die im Inneren dank der Säulenreihen, die das Dach trugen, den Eindruck schlichter Sachlichkeit vermittelte. Die Größe des Raumes von der Tür bis zum Altar kam voll zur Geltung, da es keine Bänke gab und die Schwestern der Messe stehend beiwohnten.
    Ehe sie zur Kapelle eilten, legten die Mädchen ihre Stöcke ab. Elspeth hörte ihr Gekicher und ihre hellen Stimmen noch, als sie bereits weit entfernt waren.
    Als sie die Trainingsstöcke einsammelte, die ihre Schülerinnen bei den täglichen Übungsstunden verwendeten, wusste sie, dass sie sich beim Gottesdienst nur mühsam würde wachhalten können. Seit Tagesanbruch, der immer früher kam, da der Winter dem Frühling wich, hatte sie unterrichtet.
    Als sie über das Trainingsgelände hinter dem Refektorium ging, summte Elspeth die Weise, die sie heute zu hören hoffte. Die Melodie war kompliziert, wurde sie aber vom Chor gesungen, schwebten die Noten herrlich über dem Kirchenschiff. Sie wünschte, sie hätte mitsingen können, doch blieb ihr neben ihrem Unterricht keine Zeit für den Chor. Vielleicht war es so am besten. Das gemeinsame Singen hatte seine Tücken, da ihre Stimme ihrem eigenen Weg folgte, der ihren Gefühlen entsprach, aber nicht immer mit dem Gesang des Chores übereinstimmte.
    Sie ging die Stufen zum Untergeschoss hinunter, um die Trainingsstöcke ihrer Schülerinnen im Vorratsgewölbe der Abtei zu verstauen. Im Inneren herrschte Halbdunkel, zwischen den auf dem Lehmboden verstreuten Steinchen waren leise huschende Geräusche zu hören.
    »Mäuschen, friss nicht zu viel«, sagte sie mit leisem Lachen. »Lass uns, die wir heute schwer gearbeitet haben, etwas übrig.«
    Wie oft hatte die Äbtissin sie gescholten, weil sie mit jedem und allem, was ihr über den Weg lief, redete, doch konnte Elspeth diese Gewohnheit nicht ablegen. Sie lehnte die Stöcke an eine Wand unweit eines kleinen Fensters.
    Ein Schatten glitt am Fenster vorüber, Schritte eilten die Steinstufen herunter. Eine Silhouette spähte ins Gewölbe und rief: »Schwester
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