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Handbuch für Detektive - Roman

Handbuch für Detektive - Roman

Titel: Handbuch für Detektive - Roman
Autoren: C.H.Beck
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Die Arbeit des erfahrenen Detektivs bleibt unbemerkt, doch nicht etwa deshalb, weil er nicht bemerkenswert wäre. Vielmehr ähnelt er dem Schatten des Verdächtigten: Er folgt ihm, als gehöre er dazu.
    Man möge diese Einzelheit nicht irrtümlicherweise für einen Hinweis halten, doch es sei erwähnt, dass Mr. Charles Unwin, der sein Lebtag in dieser Stadt gewohnt hatte, jeden Tag, selbst wenn es regnete, mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Er hatte eine Methode entwickelt, mit aufgespanntem Schirm zu radeln, indem er den gebogenen Griff seines Schirms in den Lenker einhängte. Zwar war das Fahrrad dadurch schwerer zu manövrieren, und auch Unwins Sicht war beeinträchtigt, doch wenn es galt, in seinem gewohnten Tagesablauf eine inoffizielle Fahrt aus inoffiziellen Gründen zum Central Terminal unterzubringen, war mit gewissen Risiken einfach zu rechnen.
    Wenngleich von Natur aus eher unscheinbar, war er als schirmbewehrter Radfahrer nicht zu übersehen. Vor dem Klingeln seiner kleinen Fahrradglocke stoben die Massen der Fußgänger auseinander, Mütter breiteten die Arme schützend um ihre Kinder, und ihre Sprösslinge starrten mit offenen Mündern auf das vorüberfahrende Gespann. AnKreuzungen vermied er den Augenkontakt mit den Lenkern motorisierter Fahrzeuge, um nicht den Eindruck zu vermitteln, er würde ihnen die Vorfahrt lassen. Heute war er spät dran. Er hatte seine Hafergrütze anbrennen lassen, sich die falsche Krawatte umgebunden und fast seine Armbanduhr zu Hause vergessen, und all das wegen eines Traumes, der ihn kurz vor seinem Erwachen ereilt hatte und ihn noch immer beunruhigte und ablenkte. Jetzt wurden seine Socken langsam nass, weshalb er noch schneller in die Pedale trat.
    Auf dem Bürgersteig vor dem Westeingang des Central Terminal stieg er ab und kettete sein Fahrrad an eine Straßenlaterne. Die große Drehtür wirbelte ohne Unterlass und spuckte Reisende in den Regen hinaus, deren Schirme sich blitzschnell öffneten wie schwarze Pilzköpfe. Er klappte seinen eigenen Schirm zusammen, schlüpfte durch die Drehtür und blickte rasch auf die Uhr, während er in die Bahnhofshalle trat.
    Seine Armbanduhr, ein Geschenk der Agentur für zwanzig treue Dienstjahre, musste niemals aufgezogen werden und war – bis auf die Sekunde genau – auf die Zeit eingestellt, die an der großen Wanduhr mit den vier Zifferblättern über dem Informationsschalter im Herzen des Bahnhofs abzulesen war. Es war dreiundzwanzig nach sieben. Somit blieben ihm genau drei Minuten, bevor die Frau im karierten Mantel, das Haar sorgfältig unter eine Mütze gesteckt, am Südeingang des großen Bahnhofes auftauchen würde.
    Er stellte sich bei dem kleinen Frühstückswagen an, wo sich der Mann ganz vorne in der Schlange gerade einen Kaffee mit zwei Löffeln Zucker, aber ohne Milch bestellte.
    «Geht aber ziemlich langsam voran heute, nicht wahr?», sagte Unwin, doch der Kunde vor ihm würdigte ihn keinerAntwort. Vielleicht hatte er ihn in Verdacht, ihm seinen Platz streitig machen zu wollen.
    Es war sowieso besser für Unwin, ein Gespräch zu vermeiden. Wenn jemand ihn fragen sollte, warum er seit Neuestem jeden Morgen zum Central Terminal kam, obwohl sein Büro nur sieben Blocks von seiner Wohnung entfernt lag, würde er antworten, er komme wegen des Kaffees. Doch das wäre eine Lüge gewesen, von der er hoffte, nie auf sie zurückgreifen zu müssen.
    Der Junge mit dem müden Gesicht, dem man die Bedienung der dampfenden Apparaturen des Frühstückswagens anvertraut hatte – laut dem Schildchen an seinem Revers hörte er auf den Namen Neville –, rührte den Zucker löffelweise in den Kaffee. Der Mann wartete auf seinen Kaffee, zwei Mal Zucker, ohne Milch, schaute auf die Armbanduhr, und Unwin wusste, ohne hinzusehen, dass die Frau im karierten Mantel in weniger als einer Minute hier, besser gesagt dort, sein würde, am südlichen Ende der Halle. Er wollte eigentlich gar keinen Kaffee. Doch was, wenn ihn jemand gefragt hätte, was er denn jeden Morgen zur gleichen Zeit im Bahnhof mache, und er sagte, er komme wegen des Kaffees, hätte dabei aber gar keinen in der Hand? Schlimmer als eine Lüge ist eine Lüge, die niemand glaubt.
    Als Unwin endlich an der Reihe war, seine Bestellung aufzugeben, fragte ihn Neville, ob er Milch oder Zucker wünsche.
    «Nur Kaffee. Und beeilen Sie sich, bitte.»
    Neville schenkte den Kaffee mit großer Sorgfalt ein und ließ noch größere Sorgfalt walten, während er den Deckel auf den Becher
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