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Handbuch für Detektive - Roman

Handbuch für Detektive - Roman

Titel: Handbuch für Detektive - Roman
Autoren: C.H.Beck
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hingen Sivarts Fortschritte bei dem Fall direkt von seiner Fähigkeit ab, ihn zu dokumentieren, und dass der nächste Hinweis im Dunkeln bleiben würde, solange der vorangegangene nicht entsprechend zugeordnet war. Der Detektiv lieferte Notizen, Bruchstücke, Verdachtsmomente; es war die Aufgabe des Schreibers, diese zu katalogisieren und dann all das zu streichen, was sich als nebensächlich erwiesen hatte, bis nur noch der eine Strang übrig blieb, jener silberne Faden, der den Kriminalfall seiner einzig denkbaren Lösung zuführte.
    In diesem Moment jedoch erinnerte er sich an nichts mehr von seiner täglichen Existenz während jener Wochen außer an den wachsenden Papierstapel neben seiner Schreibmaschine, an den Schnee auf den Fensterbrettern und dann die überraschende Hand eines Schreiberkollegen auf seiner Schulter am Ende des Tages, wenn alle Schreibtischlampen außer der seinen bereits erloschen waren.
    Unwin wurde nicht gern auf seine alten Fälle angesprochen,besonders auf jenen nicht. Das «Älteste Mordopfer der Welt» war zu etwas geworden, das jenseits seiner selbst lag, jenseits von Sivart, sogar jenseits von Enoch Hoffmann, jenem früheren Magier, mit dessen Wahnideen alles erst angefangen hatte. Jedes Mal, wenn jemand von dem Fall sprach, verlor er noch mehr von dem, was er doch war: ein Kriminalfall, der ad acta gelegt war.
    Zwanzig Jahre lang hatte Unwin Sivart als Schreiber gedient, hatte seine Berichte in die richtige Reihenfolge gebracht, seine Notizen entziffert und anständige Akten angelegt. Er hatte so viele Fragen an den Mann, Fragen zur Philosophie seiner Detektivarbeit und den Feinheiten seiner Methoden. Und ganz besonders interessierte ihn der «Mann, der den zwölften November stahl». Jener Fall hatte das Ende einer Ära dargestellt, und doch waren die Notizen des Detektivs dazu ungewöhnlich verhalten gewesen. Wie genau hatte Sivart damals Hoffmanns List durchschaut? Wieso hatte er gewusst, dass es Dienstag und nicht Mittwoch war, während alle anderen in der Stadt den Zeitungen und dem Radio vertrauten?
    Falls Unwin dem Detektiv jemals zufällig in den langen Fluren der Agentur begegnet war oder im Aufzug neben ihm gestanden hatte, war es ihm nicht bewusst. Auf den Zeitungsfotos sah man Sivart gewöhnlich am Rande eines Tatorts stehen, ein Regenmantel und ein Hut, irgendwo im Halbdunkel, und die Glut einer Zigarre, deren Schimmer auf das Nichts fiel.
     
    Die harmonischen Klänge eines Büros, in dem fleißig gearbeitet wurde, waren wie tröstlicher Balsam für Unwins Seele. Hier verkündete eine Schreibmaschinenklingel das Ende einer Zeile, dort wurden Aktenschubladen mit einem tiefenRumpeln aufgezogen und wieder geschlossen. Auf einer Schreibtischplatte klopfte jemand einen Papierstapel zurecht, und aus allen Ecken und Enden kam das laute Klappern der Tasten, mit denen Wörter bis in alle Ewigkeit auf blütenweiße Blätter gebannt wurden.
    Wie herrlich, diese Emsigkeit, dieser Eifer! Und wie wichtig. Denn niemandem außer den treuen Schreibern war es gestattet, jene Akten schließlich an ihren Ruheplatz, in die Archive, zu bringen, wo die Kriminalfälle in ihrer ganzen Schönheit, kategorisiert und klassifiziert, nebeneinanderstanden – all die gelösten Fälle, denen man ihr innerstes Geheimnis mithilfe von Fotos, Abhörwanzen und entzifferten Geheimcodes, von Fingerabdrücken und Zeugenaussagen entlockt hatte. Wenigstens stellte sich Unwin die Archive so vor. Wirklich gesehen hatte er sie noch nie, denn nur den Unterschreibern war der Zugang zu jenen Gefilden des Büros gestattet.
    Er nahm seinen Hut ab. Doch neben seinem Schreibtisch baumelte bereits eine Kopfbedeckung am Haken des Garderobenständers. Es war eine schlichte graue Mütze, und darunter hing ein karierter Mantel.
    Sie saß auf seinem Stuhl. Die Frau im karierten Mantel (den sie zwar in genau diesem Moment nicht trug, was jedoch erstaunlicherweise der Tatsache keinen Abbruch tat, dass es sie war und niemand sonst) saß auf seinem Stuhl, an seinem Schreibtisch, und tippte beim Licht der Lampe mit dem grünen Schirm etwas in seine Schreibmaschine. Als sie aufblickte, sah sie aus, als erwache sie aus einem Traum. Ihr Zeigefinger schwebte über dem Y.
    «Warum?», wollte Unwin gerade fragen, doch dann richteten sich ihre Blicke auf ihn, und er brachte kein Wort heraus; sein Hut war wie festgeklebt an seiner Hand, dieAktentasche wie mit Blei gefüllt. Da war wieder dieses Gefühl – das Gefühl, dass sich vor seinen
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