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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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und Armbewegungen unterscheidet sich zwar erheblich zwischen den verschiedenen Kulturen und Gemeinschaften, ihre Bandbreite ist aber nicht annähernd so groß wie die verblüffende Anzahl unterschiedlicher Laute, Wörter und grammatischer Strukturen in den weltwelt existierenden Sprachen. Ein Klaps auf den Rücken, ein Achselzucken und ein Schlag in die Magengrube bedeuten zwar nicht überall auf der Welt genau dasselbe, sind aber weitaus besser »übertragbar« als alle Worte und Laute, die ich hervorbringen kann. Sogar ein Hilferuf, eine Lachsalve oder ein Schmerzensschrei sind von Kultur zu Kultur weniger leicht zu vermitteln als eine Berührung Ihres Arms.
    Die artikulierte Sprache, wie oder wann immer sie entstand, ob in einer Gruppe unserer Vorfahren oder in vielen, fügte einen Kommunikationskanal hinzu, der sich von Grund auf vom Gebrauch der Hand unterschied. Sie war viel weniger leicht übertragbar als die bis dahin verfügbaren kommunikativen Mittel. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass sie sich durchsetzte.
    In den meisten Lebensbereichen wissen wir sehr wohl, dass der Zweck, für den ein Gegenstand erfunden worden ist, und seine tatsächliche Verwendung nicht notwendig in Zusammenhang stehen. Mag der Schirm dazu bestimmt gewesen sein, uns vor Regen zu schützen, wurde doch einmal ein Exemplar auf der Waterloo Bridge für ein Attentat auf einen Dissidenten benutzt. Streichhölzer verdanken ihre Existenz dem Wunsch, das Feuermachen überall kostengünstig zu ermöglichen, sind aber auch äußerst brauchbare Zahnstocher. Wofür etwas gedacht ist und wozu es benutzt werden kann, muss auseinandergehalten werden. Es ist sehr eigenartig, dass diese Grundregel beim ernsthaften Nachdenken über Sprache und Übersetzen bisher fast keine Rolle gespielt hat.
    Die simple Tatsache der sprachlichen Vielfalt legt sehr eindringlich nahe, dass die Sprache nicht zu dem Zweck entstand, mit Angehörigen anderer Gruppen derselben Spezies zu kommunizieren. Wenn sie dafür gedacht war, haben unsere Vorfahren einen schweren Missgriff getan. Und hätten die Sache sofort wieder abblasen sollen.
    Ebenso wenig gibt es einen besonderen Grund für die Annahme, dass die Sprache entstand, damit Mitglieder derselben Gruppe miteinander kommunizieren können. Das taten sie bereits – mit Händen, Armen, Körper und Mimik. Viele Spezies tun das. Sie können sie im Zoo besichtigen.
    Dass wir beim Sprechen oder Schreiben »kommunizieren«, glauben wir hauptsächlich deshalb, weil es uns in der Schule so beigebracht worden ist. Schauen und hören wir Menschen aber beim »Sprachverhalten« zu, wie Zuschauer im Menschenzoo, bekommen wir etwas völlig anderes zu sehen und zu hören.
    Wie beim anderweitigen Gebrauch von Lippen und Händen – zum Lächeln, Streicheln, Flunschziehen und Boxen – knüpfen Stimmgeräusche ein Band zwischen Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise zusammentun müssen oder wollen: um sich gegenseitig zu unterstützen, eine Rangordnung herzustellen oder sich den Krieg zu erklären beispielsweise. So gesehen vollführt der Babysitter, der einen Säugling in seinem Kinderbett angurrt, einen Sprechakt derselben allgemeinen Art wie der ehrgeizige Student, der mir mit dem Ton auf der letzten Silbe »Guten Morgen, Sir« wünscht. Wenn das Kommunikationsakte sind, sollten wir Kommunikation nicht als Übermittlung geistiger Zustände von A nach B (und erst recht nicht als Übertragung von »Information«) definieren, sondern vielmehr als Herstellung, Verstärkung und Modifikation unmittelbarer zwischenmenschlicher Beziehungen. Besser wäre es allerdings zu sagen: Das ist nicht Kommunikation, sondern Sprache. Sprache ist die von Menschen gewählte Form der Beziehung zu anderen Menschen.
    Bei den größeren Primaten erfüllt die intensiv erforschte Praxis der Fellpflege diese Funktion. Kraulen schafft eine Bindung zwischen Mutter und Kind, es bindet Männchen in Hierarchien ein (die »Hackordnung«), es stellt Beziehungen zwischen Männchen und Weibchen her, die der Kopulation vorausgehen, und es schweißt ganz generell einen Clan oder eine in Gemeinschaft lebende Horde von Tieren zusammen. Aber es ist zeitaufwendig. Ab einer bestimmten Größe der Population ist sein Zweck nicht mehr ohne Weiteres erreichbar. Robin Dunbar ist der Auffassung, eine durch die soziale Fellpflege zusammengehaltene Horde müsse sich aufteilen, sobald sie auf eine maximale Größe von etwa 55 Köpfen angewachsen sei. Von da an ist
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