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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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Sprachenvielfalt mit Chaos und Schrecken gleichsetzen (die große Mehrheit), oder diejenigen, die meinen, sie habe auch ihre guten Seiten, oder die wenigen, die sie für eine ganz fabelhafte Sache halten. 2
    Entscheidend ist, ob wir uns im Sinne von Genesis 11, Vers 1 dagegen verschließen, auch andere Möglichkeiten der Entstehung der menschlichen Sprache in Erwägung zu ziehen. Zyniker könnten fragen, wozu religiöse Texte dann eigentlich da sein sollen. Aber Übersetzen ist keine Glaubenssache. Es ist viel interessanter.
    Die Annahme einer ursprünglichen Einheitssprache wird gemeinhin so gedeutet, dass wechselseitiges Verstehen das Ideal oder das Wesen der Sprache selbst sei. Sie macht das Übersetzen zu einer Kompensationsstrategie, allein dazu bestimmt, einem Istzustand beizukommen, der hinter dem Ideal zurückbleibt. Sie beglaubigt indirekt, aber doch mit Nachdruck, die zahlreichen historischen Versuche, Sprachen zu konstruieren, die die vorhandenen in mancher, wenn nicht gar jeder Hinsicht übertreffen. 3
    Die wissenschaftlichen Arbeiten der Sprachhistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts trugen implizit, wenn auch unbeabsichtigt dazu bei, das umstrittene Fundament der Babel-Geschichte zu festigen. Ihnen ging es darum, Sprachen in »Familien« einzuteilen und Hypothesen zu den Vorfahren verwandter Sprachen und zu den Gesetzmäßigkeiten der Erbübergänge zu entwickeln. Mit der Entdeckung einer Verwandtschaft von Sanskrit, Griechisch, Latein und Altpersisch geriet die Vergangenheit und mit ihr die gemeinsame Quelle eines ganzes Spektrums von Sprachen, die zwischen dem nördlichen Indien und dem Atlantik gesprochen wurden, wieder neu in den Blick.
    Diese aufregenden Fortschritte legten es nahe, den historischen Ursprung der modernen Sprachen als eine Kaskade aufzufassen, die sich bei ihrem Rinnen über den Berghang der Zeit vielfach teilt. Auf den nun unzugänglich gewordenen Höhen musste es eine einzige Quelle gegeben haben – das Proto-Indoeuropäische für die große Sprachfamilie, die die Sprachen Nordindiens mit vielen des Westens vereint; noch weiter oben das Nostratische, den hypothetischen Vorläufer des Indoeuropäischen und anderer europäischer und asiatischer Sprachgruppen; und weit, weit darüber die »Proto-Welt«, die Sprache vor Babel, die eine Ursprache, der alle entstammen.
    Manchen erschloss sich die Bedeutung des Sprachwandels und der Entstehung verschiedener Sprachen durch eine vom Darwinismus geborgte Brille. Der Zuwachs an Komplexität, mit dem die Entwicklung von einzelligen Lebensformen bis zu dem großartigen Räderwerk der Menschheit einherging, diente ihnen als Erklärungsmodell für die »Evolution der Sprache«, von der ungeschlachten Rede der Jäger und Sammler bis hin zur Eleganz der Académie française. Wieder andere sahen im sprachlichen Wandel einen stetigen Abstieg von der Ökonomie und dem Mysterium der alten Sprachen zu der verwirrenden Kakofonie der Straße. Diese gelehrten (und häufig schulmeisterlichen) Bemühungen gingen jedoch alle von ein und derselben kaum angezweifelten Voraussetzung aus – dass nämlich alle Sprachen im Grunde dasselbe sind, weil sie zu Beginn dasselbe waren . Das Gegenteil war eigentlich besser belegt. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel mag ja behaupten, dass im Anfang alle Sprachen eins waren – sie zeigt aber, dass sprachliche Vielfalt für ein Volk im 3. oder 2. Jahrtausend v. u. Z. eine nicht unwichtige Lebenstatsache war.
    Wenn wir der Behauptung zustimmen, dass alle Sprachen Exempel desselben sind, müssen wir freilich fragen, worin sie sich gleichen. Die Antwort, die im 20. Jahrhundert die größte Wirkung entfaltet hat, lautet: Sie haben eine Grammatik.
    Die Ansicht, eine Grammatik sei das allen menschlichen Sprachen Gemeinsame, sieht aus wie eine Hypothese – wie etwas, das man anhand von Daten überprüfen und wieder verwerfen oder aber verbessern kann. Umgegangen wurde damit meist aber nicht so. Bezeichnenderweise ist die »Grammatik-Hypothese« vielmehr ein Axiom, ein kreisrunder Grundstein. Das Axiom »erklärt«, warum tierische und technische Signalsysteme keine Sprachen sind. Da Verkehrsampeln und Hundegebell entweder nicht über erkennbare Kombinationsregeln verfügen oder keine neue Kombinationen erzeugen können, haben sie keine Grammatik, weil aber alle Sprachen eine Grammatik haben, andernfalls sie keine Sprachen wären, sind Hundegebell und Verkehrsampeln keine Sprachen. Q. e. d.
    Mit ähnlichen Zirkelschlüssen
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