Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
Vom Netzwerk:
und Peking, zu Comics und literarischen Klassikern, und streift so unterschiedliche Disziplinen wie Anthropologie, Linguistik und Computerwissenschaft. Was das Übersetzen »macht«, zieht so viele Fragen nach sich, die wir beantworten können, dass wir die Frage danach, was es ist, getrost noch eine Weile zurückstellen können.

1. WAS IST EINE ÜBERSETZUNG?
    Douglas Hofstadter fand großen Gefallen an einem kurzen Gedicht aus der Feder von Clément Marot, einem französischen Dichter des 16. Jahrhunderts. Es lautet wie folgt:

    Hofstadter verschickte es in Kopie an eine Vielzahl seiner Freunde und Bekannten und bat sie, das Gedicht ins Englische zu übersetzen und dabei so gut wie irgend möglich den formalen Eigenarten Rechnung zu tragen, die er ausfindig gemacht hatte:
    1. 28 Zeilen zu, 2., je drei Silben in, 3., sich reimenden Couplets, wobei, 4., die letzte Zeile gleichlautend ist mit der ersten, 5., das Gedicht in der Mitte von der förmlichen Anrede (vous) zur familiären (tu) wechselt und, 6., der Dichter seinen eigenen Namen in den Text einfügt. 1
    Hofstadter, Kognitionswissenschaftler an der Indiana University, erhielt im Verlauf der folgenden Monate und Jahre viele Dutzend Antworten. Jede fiel anders aus, bei allen aber handelte es sich zweifelsfrei um eine Übersetzung von Marots kleinem Gedicht. Auf diese einfache Weise veranschaulichte Hofstadter eine der misslichsten und erstaunlichsten Wahrheiten des Übersetzens. Es ist diese: Für jede Äußerung von mehr als trivialer Länge gibt es nicht die eine Übersetzung. Für alle Äußerungen gibt es unzählig viele akzeptable Übersetzungen.
    Bei ganz normaler Prosa gelangt man zu demselben Ergebnis wie bei einem Gedicht. Man lasse 100 kompetente Übersetzer eine Seite übersetzen, und die Chance, dass man zwei identische Versionen erhält, ist nahe null. Diese Tatsache veranlasst viele dazu, Übersetzen als uninteressantes Thema abzutun – es werde ja immer nur eine Annäherung hervorgebracht, etwas bloß Zweitklassiges. Aus dem Grund bezeichnet »Übersetzen« nicht eine alteingeführte wissenschaftliche Disziplin, auch wenn seine Praktiker oft auf anderen Gebieten Akademiker sind. Wie kann es Theorien und Grundsätze bei einem Vorgang geben, der kein eindeutiges Resultat erbringt?
    Wie Hofstadter vertrete ich den entgegengesetzten Standpunkt. Die vielfältigen Übersetzungsmöglichkeiten sind unbestreitbare Indizien für die grenzenlose Flexibilität des menschlichen Geists. Und ein interessanteres Thema als dieses kann es kaum geben.
    Was genau tun Übersetzer eigentlich? Wie viele verschiedene Arten des Übersetzens gibt es? Was erfahren wir aus der Nutzung dieser rätselhaften Fähigkeit über menschliche Gesellschaften der Vergangenheit und Gegenwart? Wie hängen die Tatsachen des Übersetzens mit dem allgemeinen Sprachgebrauch zusammen – und mit unserer Auffassung davon, was Sprache ist?
    Das sind die Fragen, denen ich in diesem Buch nachgehe. Definitionen, Theorien und Grundsätze können wir ausklammern, bis wir genauer wissen, worüber wir sprechen. Stellen wir sie vorläufig zurück und entscheiden zunächst, ob die folgenden Versionen des Gedichts von Clément Marot (die erste von Hofstadter selbst, die zweite von Frank Rohde) gut, schlecht oder keins von beidem sind. Es ist genau andersherum: Solange wir nicht erklären können, warum die folgenden Versionen als Übersetzungen gelten, wissen wir im Grunde nicht, was wir mit dem Wort sagen.

3. WARUM NENNEN WIR ES »ÜBERSETZEN«?
    Wie Sprache und Kommunikation sind Wörter und Dinge nicht deckungsgleich. Und es kommt noch schlimmer: Nicht alle Wörter haben überhaupt eine sinnvolle Beziehung zu Dingen.
    C. K. Ogden, der berühmte Exzentriker und Mitverfasser von Die Bedeutung der Bedeutung , war der Ansicht, viele Probleme auf der Welt seien der irrigen Vorstellung zuzuschreiben, dass ein Ding auch existieren müsse, wenn wir einen Namen dafür haben. Ogden bezeichnete dieses Phänomen als »Wortmagie«. Unter diese Rubrik fallen unter anderem »Levitation«, »real existierender Sozialismus« und »sichere Investition«. Reine Erfindungen sind es zwar nicht, aber Trugbilder, begünstigt und erzeugt durch das Lexikon. Nach Ogdens Ansicht macht Wortmagie uns träge. Sie hält uns davon ab, die in Wörtern versteckten Annahmen zu überprüfen, und verleitet uns dazu, uns beim Denken durch Wörter manipulieren zu lassen. So gesehen müssen wir fragen: Gibt es »Übersetzen« überhaupt?
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher