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Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia

Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia

Titel: Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia
Autoren: Unbekannt
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S TRAßBURG , A PRIL
    Das Geläut des Münsters erklang in der Ferne des Nachmittags und ergoss sich in die engen Straßen und Gassen. Ein Spiel aus Tönen, wie man es nirgendwo sonst in Europa hören konnte. Ein Meisterwerk, das selbst das Herz des verirrtesten Sünders anrührte, doch Aurelius warf nicht einmal einen Blick in die Richtung des winzigen, geklappten Fensters des Fachwerkhauses. Gereizt zog der Vampir eine weitere Schublade des alten Schreibtischs aus Nussbaumholz auf. Seine Gedanken waren ganz in seine Aufgabe vertieft.
    Wo hatte dieser Bastard seine Unterlagen versteckt?
    Der Klan hatte schon lange eine Vermutung, was die Vergangenheit von Pierre de la Rougé betraf, doch bisher gab es keinen Beweis. Nun war der alte Mann tot. Herzversagen. Sein Körper war abgeholt, sein Geruch lag noch immer wie eine schlechte Aura aus Tod und Verwesung über allem, was Aurelius berührte.
    Seine empfindlichen Sinne wurden beleidigt von der Profanität des Todes, von dem erstickenden, süßlichen Parfüm, das zu viele Erinnerungen weckte, in einem Wesen wie ihm, das im Dreißigjährigen Krieg gelebt hatte und gestorben war. Aber damit wollte er sich jetzt nicht befassen. Er hatte einen Auftrag. Die Zeit war knapp. Schon bald würden die neuen Besitzer der winzigen Wohnung auftauchen und das Haus in Beschlag nehmen. In wenigen Minuten konnte der Laster kommen, der die alten Möbel und vergilbten Bilder samt ihrer Staubschicht abholen würde, um Raum für Neues zu schaffen.
    Zwischen Tradition und europäischer Zukunft auf der Grande Île zu leben, war der Traum vieler Straßburger, und sie waren bereit, ein Vermögen dafür auszugeben.
    Aurelius stieß die Schublade heftig zu. Er schloss die Augen. Langsam atmete er ein und aus. Obwohl er nicht wie ein Mensch atmen musste, beruhigte ihn dieser vertraute Prozess. Seine Gedanken sammelten sich, wurden zu einem Mantra, das er dachte, wie er es oft in schwierigen Situationen gedacht hatte.
    Nein. Ich versage nicht. Ich habe niemals versagt.
    Als Gracia ihm erzählt hatte, was Rene plante, war ihm bewusst geworden, was er alles zu verlieren hatte. Die Existenz seines Klans stand auf dem Spiel. Er war geschickt worden, weil er der Beste war. Wenn er die Dokumente nicht fand, fand sie niemand.
    Mit geschlossenen Augen lauschte er, drängte das Geläut der großen und kleinen Glocken des Münsters beiseite. Unten im Haus kochte eine Frau ein spätes Mittagessen. Sie summte leise, während Holz gegen Metall schlug – sie rührte in einem Topf. Aurelius roch den scharfen Duft von Zwiebelsuppe, der über dem Geruch nach Tod und Verwesung lag. Aber da war noch mehr. Eine ganze Welt aus Gerüchen, die darauf wartete, von ihm durchdrungen zu werden. Auch Papier hatte einen Geruch. Es roch scharf und säuerlich. In diesem Schreibtisch gab es ganz verschiedene Papiersorten, die auf unterschiedliche Art und Weise behandelt worden waren. Jede Herstellung hinterließ einen anderen Geruch, einer Prägung gleich, und hinter jeder Herstellungsart erkannte er das Material: Zellstoff, Holzstoff, Altpapier, Fichte, Tanne, Kiefer.
    „Kiefer …“, flüsterte er, und riss mit einer fließenden Bewegung die oberste Schublade auf. Sie war leer. Aber der Geruch war unverwechselbar. Schwach drang er unter dem Nussbaumholz hervor, verheißungsvoll.
    Mit dem Finger fuhr er über den Boden der Schublade. Mühelos drang sein messerscharfer Daumennagel in das Holz ein und ein haarfeiner Riss entstand. Ihm stand nicht der Sinn danach, lange nach einem geheimen Mechanismus zu suchen. Vielleicht gab es gar keinen. Das Holz konnte als doppelter Boden aufeinander geleimt worden sein, um das Versteck sicher zu machen. Er ignorierte die winzigen Holzsplitter, die sich in seine Hand gruben. Seine Haut erkannte sie innerhalb von Sekundenbruchteilen als Fremdkörper und stieß sie ohne sein Zutun ab.
    Triumphierend riss er den doppelten Boden endgültig auseinander. Etwas weiß Schimmerndes lag vor ihm. Fieberhafte Erregung pochte in seinen Adern. Er riss die Papiere an sich, die in einer an zwei Seiten offenen Plastikfolie auf ihre Entdeckung gewartet hatten. Mit einer einzigen Bewegung streifte er die Folie ab und ließ sie achtlos auf den braunen Teppich fallen.
    Hastig blätterte er die Dokumente durch, erfasste Seite um Seite den kompletten Inhalt. Namen und Daten bestätigten ihm, das Gewünschte gefunden zu haben. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Als er die Papiere gelesen hatte, steckte er sie
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