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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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unser tatsächlicher Sprachgebrauch mit grammatischen Sätzen meist nicht allzu viel zu tun hat. Wenn wir schreiben, bemühen wir uns natürlich in der Regel, in Sätzen zu schreiben. Aber nicht immer.
    Der zweite große Haken an dem Axiom der Grammatikalität – der Vorstellung, dass der Besitz einer Grammatik eine Sprache zu einer Sprache macht – ist, dass bisher noch in keiner lebenden Sprache eine Grammatik vorliegt, mit der sich ausnahmslos alle Äußerungen (inklusive Sätze) erklären lassen, die von ihren Sprechern getätigt werden. Die »Grammatik des Englischen« – oder jeder beliebigen anderen Sprache – ist bis heute nicht vollendet und man darf wohl vermuten, dass sie immer unfertig bleiben wird.
    Gäbe es Schwachstellen dieser Größe in der Aerodynamik oder der Wahrscheinlichkeitsrechnung, hätten die Brüder Wright sich nie in die Lüfte erheben und hätte die britische National Lottery nicht die Künste finanzieren können.
    Die Achillesferse einer Sprachtheorie, die die Grammatik in die Mitte rückt, lässt sich so beschreiben: Da eine Universalgrammatik nicht zu haben und bislang noch für keine Sprache eine erschöpfende Grammatik geschrieben worden ist, weiß jeder sprechende Mensch auf diesem Planeten etwas, was die Grammatik nicht weiß.
    Sparen wir uns also die Bibelgeschichte und die Schulweisheit. Und nehmen wir an, dass alle Formen menschlicher Betätigung, in denen wir Sprache erkennen, etwas haben, das allen Sprachen gemeinsam ist. Was ist das? Was kennzeichnet von Menschen hervorgebrachte Lautfolgen unzweifelhaft als Sprache?
    Die Frage hat es in sich, und es ist nicht einmal klar, wo man dabei anfangen soll. Aber versuchen wir, ohne Vorannahmen auszukommen. Eine der ersten Beobachtungen, die wir leicht machen können, betrifft unsere Hände.
    Weltweit wird in keiner Sprache ohne begleitende Handbewegungen laut gesprochen. Je größer die Konzentration beim aktiven Sprechen, desto mehr muss ein Sprecher die Hände bewegen. Achten Sie einmal auf die Konferenzdolmetscher hinter ihren Glasfenstern in Luxemburg oder Genf. Eigentlich braucht absolut niemand zu ihnen hinzuschauen und doch gestikulieren alle – ob sie nun Deutsch, Estnisch, Arabisch oder Niederländisch sprechen – heftig mit den Händen, einfach um den Redefluss in Gang zu halten. Handbewegungen sind ein unbewusster, untrennbarer Bestandteil natürlicher Sprache.
    Wir können daher mit der verlässlichen und wiederholbaren Wahrnehmung beginnen, dass Sprechen teilweise und zwangsläufig mit der Hand stattfindet. 5 Eine Ausnahme bestätigt die Regel: In den meisten Sprachen gestikulieren Nachrichtensprecher überhaupt nicht, sondern behalten die Hände auf dem Tisch oder benutzen sie höchstens dazu, die vor ihnen liegenden Blätter umzuschlagen, und zwar deshalb, weil sie nur scheinbar zu Ihnen sprechen. Genau genommen lesen sie ab, was auf dem Teleprompter geschrieben steht. Auch wer einen Vortrag hält und dabei die Hände bewegt, trägt mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Stegreif vor. Ein Dozent, der eine schriftlich ausgearbeitete Vorlesung hält, hat die Hände typischerweise neben sich oder auf dem Tisch. Sprechen ist nicht dasselbe wie einen vorbereiteten Text verlesen.
    Umgekehrt provoziert diffizile Handarbeit fast immer Lippenbewegungen. Haben Sie mal jemandem zugesehen, der einen Faden einfädelt? Nur wenige können das, ohne die Lippen zu spitzen oder den Mund zu verziehen.
    Was verbindet Hand und Mund? Der augenfälligste Zusammenhang ist das Zuführen von Nahrung. Die Hand – des Menschen, aber auch die vieler anderer Primaten – wird dazu benutzt, Nahrung zum Mund, der außerdem das Sprechorgan ist, zu führen.
    Essen und Sprechen sind zwei Tätigkeiten, die vieles gemeinsam haben. An beiden sind Hand und Mund beteiligt. Bei beiden kommen außerdem fast genau dieselben Muskeln zum Einsatz. Vielleicht gilt es deshalb als ungehobelt, beides gleichzeitig zu tun. Für Säuglinge und Kleinkinder, die ihre Muskelbewegungen noch nicht komplett steuern können, kann das sogar ziemlich gefährlich werden.
    So gesehen ist das Sprechen ein parasitärer Gebrauch von Organen, deren primäre Aufgabe die Überlebenssicherung ist. Was aber war dann die ursprüngliche Aufgabe dieses wunderbaren zusätzlichen, anderen Gebrauchs von Lippen, Zunge und den Muskeln, die das Atmen und Schlucken koordinieren? Und in welcher Weise korrelierte er mit anderen Nutzungen der Hände und Arme?
    Die kommunikative Wirkung von Hand-
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