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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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gruppenübergreifendes Kraulen nicht mehr möglich: Man ist dann entweder Teil der alten oder der neuen Horde. Man laust keine Schimpansen, die nicht zur »eigenen Art« gehören. 6
    Es gibt eine verblüffende Parallele zwischen diesem Bild von den Sozialverbänden bei Primaten und der Art und Weise, wie Menschen tatsächlich sprechen. Artikulierte Sprache macht es möglich, dass die Größe einer Gruppe beträchtlich, aber nicht endlos steigen kann. Die Sprechweise eines Individuums ist Teil seiner Identität als Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft, die durch Region, Gebiet, Stadt, vielleicht sogar Straße, mit Sicherheit aber durch den Clan oder die Familie definiert ist. Was als dialektale Variation bezeichnet wird und nur ein anderer Aspekt der Sprachenvielfalt ist, fungiert in ähnlicher Weise strukturbildend wie die Fellpflege-Gebräuche bei Schimpansen. Oder auf einen Nenner gebracht: Sprache ist Ethnie.
    So verstanden hat ethnische Zugehörigkeit nichts mit Abstammung, Vererbung, Rasse, Blutgruppe oder DNA zu tun. Sie bedeutet: wie eine soziale Gruppe sich bildet und kenntlich macht.
    Die verwirrende Vielfalt der Ausdrucksweisen, die man auf den Britischen Inseln vorfindet, zeigt eindrucksvoll, dass die Gruppenzugehörigkeit die Art und Weise, wie Menschen sprechen, bis in kleinste Details ausdifferenziert. Mit unterschiedlich eingefärbten Lauten gibt sich jemand als Teil einer Gemeinschaft zu erkennen, die in Essex lebt oder in Norfolk, in den drei Wahlbezirken von Yorkshire oder in Teesside, Edinburgh, Manchester, Birmingham, North Wales, South Wales, Somerset oder auf den Scilly-Inseln, im Solent und in Kent; hinzu kommt die Londoner Diktion, heute »Estuarine« genannt, die hörbar in zwei Teile zerfällt, abhängig davon, ob man nördlich oder südlich der brackigen Themsemündung lebt. Zusätzliche Phonologien, die die regionalen Markierungen überlagern oder mit ihnen verschmelzen, teilen mit, auf welcher Sprosse der britischen Gesellschaft ein Sprecher sich befindet, vom »Mayfairditsch« der Wohlhabenden und Privilegierten zur verwandten, aber nicht identischen Sprechweise derer, die in Privatschulen (»public schools« genannt), Gymnasien oder höheren Schulen (»grammar schools«) erzogen worden sind, und dem Rest. Natürlich lernen manche das Sprechen auch nicht von ihren Klassenkameraden, sondern beim BBC-Hören (so, glaube ich, war es wohl bei mir), und signalisieren dadurch, dass sie sich einer Vorstellung von »Bildungssprache« als dem Dialekt der (kulturellen) Autorität verpflichtet fühlen. Man kommt in Großbritannien nicht umhin zu hören, aus welcher Gegend und welcher Schicht jemand stammt, sobald er den Mund aufmacht.
    In dem Musical My Fair Lady , das auf G. B. Shaws Bühnenstück Pygmalion beruht, das seinerseits einen noch älteren Mythos fortschreibt, fragt Professor Higgins: »Ach, warum können die Engländer ihren Kindern nicht beibringen, wie man spricht?« Wir müssen ihm sagen: Aber das tun sie doch, Professor Higgins. Sie bringen ihnen bei, sich als Geordies und Aberdeener zu erkennen zu geben, als Eton-Absolventen und als Durchschnittsbriten, als Damen aus Morningside oder als Fischer aus Newquay. Wenn Sie Brite sind, können Sie das nicht überhören. Zusätzlich zu seiner Rolle als planetarischer Verkehrssprache für alle Druckwerke ist Englisch – wie jede andere Sprache auch – eine Möglichkeit, anderen bis ins Kleinste mitzuteilen, wer man ist.
    Das ist allen menschlichen Sprachen gemeinsam, und vielleicht ist es das Einzige, was wirklich universell an Sprache ist. Jede Sprache sagt dem Hörer, wer man ist, woher man kommt, wohin man gehört. Sprachliche Vielfalt, einschließlich der feinen Differenzierungen der Diktion innerhalb von wechselseitig verstehbaren Sprachen, ist der Mechanismus, durch den diese soziale Urfunktion erfüllt wird.
    Die Sprache wirkt sogar noch stärker differenzierend. Nicht zwei Individuen produzieren exakt dieselben Laute, auch wenn sie dieselbe lokale Variante einer Sprache sprechen. Rief meine Schwiegermutter an, brauchte sie nur zu sagen: Allo! c’est moi! Das könnte sie sich sparen, dachte ich jedes Mal. Den »Kommunikationskanal herzustellen« war jedoch nur der Nebenzweck ihres unbedachten phatischen Ausdrucks. Sein Hauptzweck war die Bestätigung einer zwischen uns existierenden Beziehung, die es nur deshalb geben konnte, weil zwischen ihr und mir eine irreduzible Differenz bestand. Jeder Sprechakt leistet genau das – ganz
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