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Der Mann von Anti

Der Mann von Anti

Titel: Der Mann von Anti
Autoren: Ekkehard Redlin (Hrsg)
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EXPERIMENTE
Herbert Ziergiebel
Die Experimente des Professors von Pulex
1
    Er fuhr, was der Wagen hergab. Das Auto, an dessen Reifen noch der Straßenschmutz Europas klebte, ächzte und klapperte, war bereits zu hören, noch ehe es sich aus der Staubwolke des drückend heißen Julitages herauslöste.
    Bruno Plath, der ehemalige Gefreite, hatte den alten Ford durch Schwarzmarktgeschäfte billig erworben. In jenen Tagen, da die Trümmer noch qualmten, war der Kauf eines ausgedienten Autos etwas Absonderliches. Wer den Krieg überlebt hatte und die ersten Hungermonate der Nachkriegszeit überstehen wollte, der dachte an Wichtigeres, an Brot, Fett oder Tabak, die einzig gültige und dauerhafte Währung. Die zugeteilten Kalorien trieben jung und alt zu endlosen Ringtauschen auf die schwarzen Märkte. Zeit der Verzweiflung und Hoffnung, Zeit des Feilschens und Wucherns, Ende und Neubeginn.
    Bruno hatte sich nicht lange in seiner Heimatstadt Hamburg aufgehalten. Seine Eltern waren aufs Land evakuiert worden, von dem Friseurgeschäft, in dem er die Gesellenprüfung abgelegt hatte, war ein Trümmerhaufen übriggeblieben. Der schmalhüftige Friseurgeselle überlegte nicht viel. Fünf Jahre zuvor hatte ihn der Krieg wie eine Naturkatastrophe überrascht; auf den Frieden glaubte er sich besser vor bereitet zu haben.
    Er war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Viel hatte er vom Leben noch nicht gehabt. Ein armes Elternhaus, eine karge Schulbildung, die gerade noch für den Friseurberuf genügte; hoffnungsloses Träumen von einer besseren Zukunft. Dann mußte er den Friseurkittel gegen die Uniform, die Schere gegen das Gewehr eintauschen. Endlose Jahre stumpfen Gehorsams weckten in ihm einen Instinkt für die Kunst des Überlebens.
    Er war davongekommen und sah nun in dieser Stunde Null seine große Chance. Woran er früher nicht zu denken gewagt hatte, das lag jetzt greif bar nahe vor ihm. In wenigen Wochen sollte in der Hamburger Innenstadt ein großer Friseursalon eröffnet werden. Viel Glas, Marmor und geschliffene Spiegel; ein paar nette Friseusen, zwei, drei Lehrlinge und draußen, mit großen, verchromten Buchstaben, von keinem Vorübergehenden zu übersehen:
Damen- und Herrenfriseur BRUNO PLATH
    Brunos Zielstrebigkeit beruhte auf einem Zufall. Vor wenigen Wochen, als der Krieg bereits dem Ende entgegenging, hatte er sich mit den Resten seiner Einheit auf der Flucht vor den rasch vorrückenden amerikanischen Truppen befunden. Kriegsmüde wankten sie durch den malerischen Schwarzwald. In einem Dorf hinter Schönau legten sie eine Rastpause ein. Bruno Plath hatte sich in einen Heuschober vergraben und war eingeschlafen. Als er in der Nacht erwachte, befand er sich zu seiner Überraschung allein. Seine Truppe und auch die wenigen Einwohner waren geflohen. Er fand Stahlhelme und zurückgelassene Karabiner und folgerte daraus, daß die Amerikaner das Dorf überrannt haben mußten.
    Sosehr er jedoch nach fremden Soldaten suchte und sogar rief, um sich freiwillig in Gefangenschaft zu begeben – außer einem Hofhund und einigen Rindern fand er nichts Lebendiges. Statt dessen bemerkte Bruno zwei mit Zeltplanen verschlossene LKWs, die bei ihrer Ankunft noch nicht auf dem Hof gestanden hatten. In der Hoffnung, etwas Eßbares zu entdecken, öffnete er eine Plane und kletterte in den Lastwagen. Überraschung und Entzücken malte sich in seinem Gesicht, als er im Schein einer Taschenlampe die Fracht erkannte. Das Auto war bis zum Rand mit Lebensmitteln gefüllt. Bruno löste einige Verpackungen. Seit Jahren hatte er solche Köstlichkeiten nicht mehr gesehen. In Blechkanistern waren seltene Gewürze verpackt; er entdeckte Pfeffer, Zimt, Nelken, Vanille und Paprika; ein Dutzend Säcke enthielt Rohkaffee und Kakao, in mehreren Kisten befand sich Schokolade, andere waren mit Ölsardinenund Thunfischkonserven gefüllt. Bruno fand Tabak, Zigarren und Zigaretten; auf zwei großen Kisten stand: Vorsicht, nicht stürzen! Sie enthielten einige Dutzend Flaschen Kognak. Er untersuchte das andere Auto, fand fabrikneue Schuhe, mehrere Ballen Stoffe, Radioapparate, Feuerzeuge, Hemden und Hosen und eine Unmenge Socken. Offenbar waren die beiden LKWs für höhere Offiziere bestimmt gewesen.
    Der Gedanke, daß ihm dieser märchenhafte Schatz gehören könnte, war ihm anfangs nicht gekommen. Als er sich aber nach einer Stunde noch immer allein im Dorfe befand und bedachte, daß der Krieg schon in wenigen Tagen zu Ende sein könnte, reifte in ihm der
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