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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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gleich, was man sagt.
    Individuelle Sprech- und Redeweisen variieren nicht deshalb, weil physikalische, intellektuelle oder praktische Gründe das unvermeidlich machten – Imitatoren zeigen, dass es möglich ist, sich den Stimmabdruck eines anderen anzueignen, wenn man lange genug trainiert. Individuelle Sprechweisen variieren, weil es ein grundlegender und vielleicht der ursprüngliche Zweck des Sprechens ist, Abgrenzung zu ermöglichen – und zwar nicht nur nach regionaler oder sozialer Herkunft oder nach dem Clan oder der Straßengang, zu der man gehört, sondern um zu sagen: »Ich bin nicht du, sondern ich.«
    Babel erzählt die falsche Geschichte. Der ursprüngliche Sinn der menschlichen Sprache war vermutlich nicht, gleich zu sein, sondern anders.
    In Regionen der Welt, die nur dünn besiedelt sind und in denen physische Hindernisse – hohe Gebirge, wasserlose Wüsten oder dichter Dschungel – das Reisen gefährlich machen, ist die Sprachenvielfalt außerordentlich hoch. Die verschiedenen indigenen Gesellschaften in Papua-Neuguinea, den großen australischen Ebenen und dem Amazonasbecken etwa kommen nicht oft miteinander in Kontakt. Sogar in einem wohlhabenden Land wie der Schweiz haben die physischen Hindernisse, die den Kontakt zwischen den vielen Hochtälern erschweren, das bis heute bestehende Miteinander von vier Hauptsprachen geprägt. In anderen Teilen der Welt hingegen, in denen die Geografie das Reisen und damit Kontakt, Austausch, Handel und Kriege begünstigt, ist die sprachliche Vielfalt stark reduziert. Sprachen verschmelzen, wenn die Menschen zueinander kommen.
    Trennen wir uns daher von dem alten Bild der sprachlichen Vielfalt, nach dem Flüsse sich auf ihrem Weg von der einen Gletscherhöhe über den Berghang nach unten immer weiter aufteilen, und betrachten wir sie stattdessen als stets nur vorläufiges Ergebnis einer Vielzahl von Quellen, Weihern und Schneeschmelzen, die in Täler hinabrinnen, dort aufeinandertreffen und sich zu breiteren, tieferen Strömen vereinen. Abermals ist das Englische ein ziemlich außergewöhnliches Beispiel – zu seinen identifizierbaren Ursprüngen gehören: die germanische Sprache der Angeln und Sachsen, das Französische, erlernt von den normannischen Soldaten, die die Insel im Jahr 1066 überrannten, dazu eine gehörige Portion Latein, ein Schuss Dänisch, ein paar Spritzer Keltisch und diverse Zutaten aus mindestens einhundert Sprachen der Welt. Zurzeit scheint es über seine schon breiten Ufer zu treten und sich in viele andere Ströme zu ergießen. Aber eigentlich ist das kein Anlass zur Sorge. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle Sprachen vom Englischen verschlungen werden, ist nicht größer als die, dass Amazonas und Wolga ins selbe Meer münden. Wie wir gesehen haben, hat die soziale Urfunktion der sprachlichen Differenzierung nicht verhindert, dass man sich auf Englisch genauso gut abgrenzen kann wie in allen anderen Sprachen auch.
    Daraus folgt, dass das Übersetzen nicht »nach Babel« die Bühne betritt. Es betritt sie, wenn eine Gruppe von Menschen auf die glänzende Idee kommt, dass es sich lohnt, mit den Kindern aus dem Nachbarviertel oder den Menschen auf der anderen Seite des Hügels zu sprechen. Übersetzen ist ein erster Schritt hin zur Zivilisation.
    Hunderttausende, vielleicht Millionen von Jahren sind verstrichen zwischen dem Entstehen von Sprachlauten, mit denen die Funktionen der verbindenden sozialen Fellpflege erfüllt wurden, und der Erfindung der Alphabetschrift. Während dieses für immer im Verborgenen bleibenden Weltenzeitraums haben menschliche Gesellschaften entdeckt, dass sie wesentlich mehr mit der Sprache machen können, als bloß ihre Familien, Clans und Stämme in Ordnung zu halten.
    Das Übersetzen beschäftigt sich mit der Mehrzahl dieser anderen Dinge. Die Funktionen der Sprache im zwischenmenschlichen Verkehr kann und will es weder wahrnehmen noch imitieren oder wiederholen. Wie wir in einem früheren Kapitel festgestellt haben, ersetzen Übersetzer nicht Dialekt durch Dialekt, wenn sie von einer bestehenden Sprache in die andere übersetzen. »Moin«, »Grüß Gott«, »Yalrite?« und »Wotcha, mate« sind Grußformeln, mit denen sich der Sprecher als Norddeutscher oder Bayer, als Glasgower oder Londoner zu erkennen gibt. Es mögen Übersetzungen von Bonjour, monsieur sein, die Aufgabe aber, die sie unwillkürlich und zwangsläufig erfüllen, ist, Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft und eben nicht zu einer
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