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34° Ost

Titel: 34° Ost
Autoren: Coppel Alfred
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    Schwarz und zerklüftet lagen die Berge des südlichen Sinai-Massivs im morgendlichen Licht der tiefstehenden Novembersonne. Der grelle Glanz des weißen Himmels machte es schwer, die Entfernung zu schätzen, doch Enver Leč wußte, dass es vom Meer, dem er den Rücken zuwandte, nicht mehr als zweiundzwanzig Kilometer bis zur Hügelkette waren. Wenn das Rendezvous nach Plan verlief, war damit zu rechnen, dass das Kommando die Vorberge am späten Nachmittag erreichen würde. War das einmal geschafft, hatte die Truppe die russische Zone hinter sich und befand sich auf entmilitarisiertem Gebiet, wo ihr nur noch die Patrouillen der Vereinten Nationen lästig fallen konnten. Aber eine nur mit Handwaffen und vertraglich festgelegten Anordnungen ausgerüstete Streitmacht stellte keine Gefahr für die Operation dar: UN-Beobachter waren auch schon bei früheren Gelegenheiten gefallen.
    Von dem albanischen U-Boot, das ihn auf diesem einsamen Küstenstrich zwischen Scharm el Scheich und El Tur, nicht weit von der Südspitze der Sinai-Halbinsel, abgesetzt hatte, war, außer einem kleinen Ölfleck auf den Wassern des Golfs von Suez, keine Spur zurückgeblieben. An jedem anderen Ort hätte ihn ein solcher Fleck gestört, aber hier, wo es so viele Bohrtürme und Tanker gab, maß man Ölspuren auf dem Wasser keine Bedeutung bei. Überdies versahen an dieser Küste ägyptische Kanonenboote den Patrouillendienst, und die laxe Disziplin ihrer Mannschaften hatte bei der Wahl dieses Punktes für das Rendezvous mit den Guerillas eine entscheidende Rolle gespielt.
    Von der Küste aus, wo die Wellen sanft plätschernd an den Strand schlugen, stieg das Land zu einer von Felsen übersäten, weder von Dünen noch irgendwelchen Flussläufen unterbrochenen Ebene an. Das Fehlen jeglicher Deckung wurde dadurch wettgemacht, dass man schnell vorwärts kam. Wenn Leila anständige Arbeit geleistet, Kamele und Kleidung beschafft hatte, würde ein Beobachter aus der Luft nichts als eine Schar nomadisierender Sinai-Beduinen sehen, die von der Küste zur Oase am Wadi Feiran zogen.
    Dies war der einzige wirklich gefährliche Moment: da stand er im Tarnanzug, sechs Kisten mit Waffen und Munition auf dem Sandstrand neben sich, frei und ungedeckt im frühen Morgenlicht.
    Enver Leč war ein mittelgroßer, muskulöser Mann Ende vierzig. Eine Sonnenbrille verdeckte seine blaßblauen Augen. Sie ruhte auf einer breiten Hakennase, die vor langer Zeit einmal gebrochen und schlecht eingerichtet worden war. Ein herabhängender Schnurrbart betonte die schmalen Lippen und das kräftige, fleischige Kinn. Er hatte lange, gelb getönte Zähne. Er bekleidete den Rang eines Obersten in der Albanischen Volksarmee, wenngleich es schon Jahre her war, dass er in seiner Heimat in einer regulären Einheit gedient hatte. Als junger Mann hatte er als Angehöriger des Freiwilligenkorps der Chinesischen Volksrepublik in Korea gekämpft. In den sechziger Jahren hatte er beim Vietkong gedient – eine vernarbte Napalm-Brandwunde war ein Souvenir aus diesem Krieg. Von Vietnam war er nach West-Bengalen gegangen, um dort bei der Aufstellung maoistischer Kader zu helfen. Dann hatte man ihn nach Kambodscha zurückgeschickt, wo er in den Reihen des Roten Khmer kämpfte. Er hatte im militärischen Stab der albanischen Gesandtschaft in Burundi und als Ausbilder für moderne Waffen in Libyen, Syrien und dem Irak gedient. Er war von Beruf Freischärler, und als solcher stand er jetzt auf diesem öden Küstenstrich und erwartete die Ankunft des Abu-Mussa-Kommandos der Arabischen Front für die Befreiung Palästinas. Er wußte, dass diese Araber Freischärler waren wie er. Und hoffte nur, dass auch sie ihr Handwerk verstanden.
    Leč war ein Mann ohne Privatleben, mit einem einzigen politischen Ideal. Er war ein glühender Verehrer Bakunins und zitierte mit Vorliebe jene Maxime dieses Anarchisten des neunzehnten Jahrhunderts, wonach ›die Leidenschaft der Zerstörung auch als schöpferische Leidenschaft‹ anzusehen sei. Die ungezügelte Wildheit dieses Satzes erfüllte Enver Leč mit grenzenloser Befriedigung. Allem Anschein nach ein zuverlässiger albanischer Maoist, war er in Wahrheit uninteressiert an politischen Systemen jeglicher Art. Ob russischer Revisionismus, chinesischer Tschuismus, amerikanischer Imperialismus, ob Israels Zionismus, ob Ägyptens Pan-Arabismus – sie alle bedeuteten ihm nichts. Aber der Fanatismus der Arabischen Front, in der sich die zersprengten Reste der
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