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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist
Autoren: Ulrich Woelk
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elegante, sinnliche, begehrenswerte Frau.
    Sie schien kaum älter geworden zu sein, aber vielleicht war das Foto schon vor Jahren entstanden. Allenfalls wirkte sie durch das Kleid reifer und dadurch eigentlich noch verführerischer. Im Hintergrund, ein wenig schemenhaft und verschwommen, sah man den Flügel und daran sitzend  – trotz Unschärfe unverkennbar aufgrund seines markanten kahlrasierten Beuys-Schädels – Ivo Reich, der also immer noch Zoes musikalischer Partner war. Als Duo nannten die beiden sich jetzt, wie auf dem Plakat zu lesen war, Cool Lovers .Im A-Trane waren sie nur unter ihren jeweiligen Eigennamen aufgetreten – nun waren sie also eine feste Formation: kühl oder lässig Liebende.
    Natürlich wusste er nicht, ob Cool Lovers nur ein zeitgemäßes Etikett für ihre musikalische Zusammenarbeit war oder ob mehr dahintersteckte. Aber eigentlich bedeutete das nichts, denn sicher war ja: Ebenso wenig, wie er Zoes erster Liebhaber gewesen war, würde er ihr letzter gewesen sein – ganz gleich, ob sie sich von Piet getrennt hatte oder nicht.
    Er betrachtete das Plakat sehr lange. Cool Lovers . Gab es das? Liebe ohne Hitze, ohne Feuer? Liebe als Lifestyle? Als elegante Facette des Zeitgeistes? Und wenn es so war, sang Zoe dann noch Light My Fire ? Und falls ja, wie? Ironisch, bluesig, witzig oder anders, so wie …
    »Kennst du sie?« Anke trat neben ihn.
    Er schüttelte langsam den Kopf. »Nein.«
    Sie betrachtete das Plakat. »Eine schöne Frau.«
    Er nickte. »Ja, sie sieht gut aus.«
    Sie küssten sich kurz zur Begrüßung.
    Der Motor wird leiser. Der Kapitän kommt aufs Vorderdeck, in schwarzer Uniform, mit Schirmmütze und goldenen Schulterklappen. Alle versammeln sich vor dem kleinen weißen Aufbau mit der Urne. Er steht neben Anke, vor sich die beiden Kinder. Von den Worten, die der Kapitän an die kleine  Trauergemeinschaft richtet, versteht er erstaunlich viele: zee, water, afscheid, dood, leed, pijn, troost, hoop, nagedachtenis, liefde . Wenn es um Tod und Trauer geht, sind sich das Deutsche und Niederländische offenbar näher, als man denkt. Undda der inhaltliche Zusammenhang der Wörter bei Trauerreden offensichtlich ist, hat er am Ende der kurzen Ansprache das Gefühl, die eigentliche Botschaft verstanden zu haben: Lisa Ziegler, wir werden uns deiner stets in Liebe erinnern.
    Lisa Ziegler. Tante Lisa hat nie geheiratet, weil sie über Josif Tschanoff nicht hinweggekommen ist – das ist es, was sie ihm gesagt hat. Aber hätte sie nicht trotzdem heiraten können? War das Alleinsein nicht ein zu hoher Preis für die Bewahrung der Reinheit oder Einmaligkeit ihrer Liebe? Er weiß es nicht. Er hat nie mit ihr darüber gesprochen.
    Manchmal hat er sich gefragt, ob ihr Alleinsein nicht eine Art Buße war, die sie sich auferlegt hatte, um die Schuld der Familie gegenüber Josif Tschanoff zu tilgen. Hätte sie wieder geheiratet, wäre dies eine Art Rückkehr zur Normalität gewesen, einer Normalität, die es für sie nach der öffentlichen Hinrichtung Tschanoffs auf dem Firmengelände nicht mehr geben konnte und durfte. Deswegen hat ihre Mutter, seine Großmutter, ihr die Ehe- und Kinderlosigkeit nie verziehen: weil sie dadurch beständig daran erinnert wurde, dass niemand in der Familie es gewagt hatte, sich schützend vor Tschanoff zu stellen.
    Der Kapitän nimmt die Urne in beide Hände und kommt auf ihn zu. Auf Deutsch sagt er: »Wie Sie wissen, war es der Wunsch Ihrer Tante, dass Sie ihre Asche im Meer verstreuen. Vielleicht wollen Sie noch ein paar Worte sagen.«
    Er schüttelt den Kopf. »Ich könnte nichts anderes sagen als Sie. Haben Sie vielen Dank dafür.«
    »Gehen Sie auf die rechte Seite. Dann trägt der Wind die Asche aufs Meer hinaus.«
    Er nimmt die Urne entgegen. Sie ist dunkelrot mit einem umlaufenden Muster aus Blattornamenten. Er geht zur Reling, alle folgen ihm. Lisas Freundinnen haben Tränen in den Augen. So gebeugt, wie sie dastehen, sind sie kaum größer als seine Kinder, deren Hände Anke hält. Der Kapitän hat die Mütze abgenommen und den Kopf gesenkt. An einer Messingglocke, die von der Brücke herabhängt, steht der erste Offizier und erfasst die am Klöppel befestigte Schnur.
    Das Schiff schaukelt leicht in den Wellen. Er öffnet den Deckel der Urne. Er zögert einen Moment. Trauer schnürt ihm den Hals zu, aber es gelingt ihm, die Tränen zurückzuhalten. Er glaubt, dass es besser so ist. Mehr noch als Tränen verdient Tante Lisas Leben Respekt.
    Er
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