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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster
Autoren: Jodi Picoult
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EINS

    Als Ross Wakeman sich das erste Mal umbrachte, hatte er Erfolg, anders als beim zweiten oder dritten Mal.
    Er schlief am Steuer seines Wagens ein und fuhr von einer Brücke in einen See. Das war das zweite Mal. Seine Retter fanden ihn am Ufer. Als man seinen Honda barg, waren alle Türen verriegelt und die Fenster aus Sicherheitsglas waren von unzähligen Sprüngen durchzogen. Kein Mensch konnte sich erklären, wie er aus dem Auto herausgekommen war und dabei nicht einmal einen Kratzer abgekriegt hatte.
    Beim dritten Mal wurde Ross in New York auf der Straße überfallen. Der Täter nahm ihm die Brieftasche ab, schlug ihn zusammen und schoss ihm dann in den Rücken. Die Kugel hätte ihm aus der kurzen Entfernung das Schulterblatt zerschmettern und einen Lungenflügel durchbohren müssen, doch stattdessen wurde sie wie durch ein Wunder von dem Knochen abgebremst. Das Bleikügelchen trägt Ross jetzt als Schlüsselanhänger bei sich.
    Das erste Mal war vor etlichen Jahren, als Ross in ein Gewitter geraten war. Der Blitz war aus dem Himmel gezuckt, genau auf sein Herz zu. Die Ärzte teilten ihm mit, dass er sieben Minuten lang klinisch tot gewesen war. Sie folgerten, dass Ross nicht direkt von dem Stromschlag getroffen worden sein konnte, weil bei einer Spannung von 50 000 Ampere in der Brusthöhle die Feuchtigkeit in den Zellen verdampft und er im wahrsten Sinne des Wortes geplatzt wäre. Der Blitz musste demnach ganz in der Nähe eingeschlagen haben und hatte in Ross’ Körper einen Induktionsstrom erzeugt, der zu einer Herzrhythmusstörung geführt hatte. Die Ärzte sagten, dass er ein echter Glückspilz sei.
    Sie irrten.
    Und nun, als Ross das nasse Dach des Hauses der O’Donnells in Oswego hochkletterte, verschwendete er keinen Gedanken mehr an Sicherheitsmaßnahmen. Der Wind, der vom Lake Ontario heranwehte, war selbst im August noch kalt und peitschte ihm das lange Haar ins Gesicht, als er sich um das Giebelfenster herummanövrierte. Der Regen prasselte ihm in den Nacken, während er mit der Blitzlichthalterung hantierte und die wasserdichte Videokamera auf den Speicher ausrichtete.
    Seine Stiefel rutschten ab und verschoben ein paar Schindeln. O’Donnell, der unter einem Regenschirm stand, spähte zu ihm hoch. »Vorsicht«, rief er. Und Ross hörte auch, was er nicht aussprach: Gespenster haben wir schon genug .
    Aber ihm würde nichts passieren. Er würde nicht ausgleiten, er würde nicht abstürzen. Deshalb übernahm er freiwillig die riskantesten Einsätze, deshalb brachte er sich wieder und wieder in Gefahr. Deshalb hatte er Bungee-Springen und Free Climbing und Crack ausprobiert. Er winkte zu Mr. O’Donnell hinunter, um ihm zu signalisieren, dass er ihn verstanden hatte. Aber ebenso sicher, wie Ross wusste, dass in acht Stunden die Sonne aufgehen würde – ebenso sicher, wie er wusste, dass er wieder einen Tag durchstehen musste –, ebenso sicher wusste er, dass er nicht sterben konnte, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte.

    Das Baby weckte Spencer Pike, und er setzte sich schwerfällig auf. Trotz der Nachtbeleuchtung, die in jedem Zimmer des Pflegeheims Shady Pines brannte, konnte Spencer nicht weiter als bis zum Fußende seines Bettes sehen. Er konnte in letzter Zeit gar nichts mehr sehen, wegen des grauen Stars auf beiden Augen; aber manchmal, wenn er aufstand, erhaschte er in dem Spiegel, an dem er vorüberkam, einen flüchtigen Blick von jemandem, der ihn beobachtete – jemand, dessen Gesicht nicht fleckig und gelb war, jemand, dem die Haut nicht schlaff von den Knochen hing. Jemand, der er früher einmal gewesen war.
    Hören konnte er allerdings noch gut. Verdammt, er hörte Dinge, die er nicht hören wollte.
    Das Baby weinte erneut los.
    Spencers Hand huschte über die Decke zu dem Klingelknopf neben dem Bett. Einen Moment später kam die Nachtschwester herein. »Mr. Pike«, sagte sie. »Was ist los?«
    »Das Baby weint.«
    Die Schwester schüttelte sein Kissen auf. »Hier gibt es keine Babys, Mr. Pike, das wissen Sie doch. Sie haben geträumt.« Sie tätschelte seine hagere Schulter. »So, jetzt wird aber schön weitergeschlafen.«
    Warum, fragte Spencer sich, sprach sie mit ihm, als wäre er ein Kind? Und wieso verhielt er sich wie eines, ließ zu, dass sie ihm die Decke bis über die Brust zog? Eine Erinnerung drang Spencer in die Kehle, etwas, das er nicht ganz bis vor die Nebelwand ziehen konnte, das ihm aber Tränen in die Augen trieb. »Brauchen Sie etwas Naproxen?«,
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