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Verschwunden

Verschwunden

Titel: Verschwunden
Autoren: Amanda McLean
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    Lane Downey saß am Lehrerpult und betrachtete ihre Klasse.
Sie unterrichtete eine der Ersten Klassen an der örtlichen Grundschule, es war das, was sie immer machen wollte. Wie mühselig war es gewesen, jahrelang neben dem College noch kellnern zu gehen, nur um irgendwie über die Runden zu kommen.
Doch jetzt hatte sie erreicht, wovon sie immer geträumt hatte: Sie durfte unterrichten.
    Es war nicht schwer gewesen, die Stelle an der Schule in Flatbush zu bekommen. Flatbush, Brooklyn war keine Gegend, um die sich Neuabsolventen rissen. Doch Lane war das egal, alles, was zählte, war, dass sie sich nun „Lehrerin“ nennen durfte. Und das tat sie auch bei jeder Gelegenheit. „Ich bin Lehrerin“, erzählte sie allen, die es hören wollten oder auch nicht. „Ich unterrichte die Erste Klasse, ganz niedliche Kinder.“
    Ja, das waren sie, niedliche kleine Geschöpfe. Und Lane lächelte vor sich hin, während sie die zehn Wörter von der Tafel abschrieben. Einfache Wörter: Mom, Dad, Home, Love. Wörter, die diese Kinder kannten. Das hoffte Lane zumindest.
    Ihr fiel, wie schon in den letzten Wochen, ein kleiner Junge namens Jeremy auf. Er hatte sich von Anfang an ganz nach hinten gesetzt. Es schien, als ob er lieber für sich sein wollte. Doch Lane wusste nicht, ob er einfach nur schüchtern war oder ob mehr dahinter steckte.
    Als die zwanzig Minuten um waren, rief sie ein paar der Kinder auf, um die geschriebenen Wörter noch einmal laut vorzulesen.
„Jeremy, magst du das nächste Wort vorlesen?“
    Jeremy starrte weiter zum Fenster und schien sie gar nicht zu hören.
„Jeremy!“
Erst, als ein paar der anderen Kinder begannen, ebenfalls seinen Namen zu rufen, wachte er aus seiner Abwesenheit auf.
Er sah sie ausdruckslos an.
    „ Möchtest du uns das nächste Wort vorlesen?“, fragte sie erneut.
Jeremy schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“
Lane sah ihn überrascht an. Dann nahm sie Marylou dran, die freudig „Home“ vorlas.
    ***
    Nach dem Unterricht sah Lane dem kleinen Jeremy dabei zu, wie er seine Sachen zusammenpackte, sich den Rucksack aufsetzte und ging. Er war so unscheinbar, dass man ihn leicht übersehen konnte. Freunde schien er keine zu haben, zumindest sah Lane ihn immer nur allein.
Er wirkte ein wenig schmuddelig und machte oft seine Hausaufgaben nicht.
Sie nahm sich vor, ein Auge auf ihn zu haben.
    Als sie ein paar Minuten später ins Lehrerzimmer kam und auf die Kaffeemaschine zuging, atmete sie erleichtert auf: Es war noch Kaffee da. Sie schenkte sich einen Becher ein. Der Kaffee war kalt und viel zu stark, doch es war Kaffee, genau das, was sie jetzt brauchte.
Später würde sie sich einen richtig leckeren mit Vanillesirup holen. Doch fürs Erste musste dieser hier reichen.
    „ Hey, wie war dein Tag?“, hörte sie eine Stimme hinter sich.
Sie drehte sich um und lächelte direkt in das fröhliche Gesicht von Eva Gomez, Lehrerin der vierten Klasse. Eine rundliche, immer lustige Frau mittleren Alters.
„Ich kann mich nicht beklagen“, antwortete Lane. „Die Kleinen machen gute Fortschritte. Vor allem einige der Mädchen, sie können schon ganze Sätze lesen.“
„Na, bei der Lehrerin ist das ja auch kein Wunder“, lobte Eva.
    „ Danke, das ist lieb von dir. Ich merke jeden Tag wieder, wie gerne ich meinen Job mache. Aber … machst du dir auch manchmal Sorgen um ein ganz bestimmtes Kind?“
„Das kommt jedes Jahr wieder vor. Ich mache das jetzt seit siebzehn Jahren und ich hatte noch keine Klasse, in der nicht ein Sorgenkind war. Das heißt gar nicht mal, dass es immer ein schlimmes Kind war, manchmal spielten ganz andere Faktoren eine Rolle.“
    Lane sah auf. „Wie zum Beispiel?“
„Kinder werden von ihrem Umfeld nicht immer gut behandelt, das weißt du doch. Sie werden gedemütigt, geschlagen oder Schlimmeres, von anderen Kindern, Geschwistern oder Eltern.“
„Und was tust du dagegen?“, wollte Lane gespannt wissen.
„Wenn es offensichtlich ist, dass da zu Hause etwas nicht ganz koscher ist, melde ich es dem Jugendamt.“
Lane nickte.
    „ Hast du solch einen Fall in deiner Klasse?“, fragte Eva.
„Ich bin mir nicht sicher, was es ist. Da ist dieser kleine Junge, der so unglaublich still ist. Immer abwesend. Als ob etwas Schweres auf ihm lastet. Aber ich weiß nicht, ob da wirklich etwas faul ist.“
„Dann finde es heraus!“, sagte Eva und klopfte Lane auf die Schulter.
Im nächsten Moment verabschiedete sie sich auch schon, weil sie noch ihre kranke Mutter im
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