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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster
Autoren: Jodi Picoult
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am Fuß meines Bettes steht. Sie ziehen Ihre eigenen Schlüsse. Verdammt, was ist denn mit der Aufnahme, die Sie selbst gemacht haben, von dem Gesicht, das aus dem See aufsteigt? Meinen Sie, ich hätte das arrangiert? Ich war zu dem Zeitpunkt doch ganz woanders.« Curtis atmete tief durch, beruhigte sich wieder. »Hören Sie, ich will die O’Donnells nicht aufs Kreuz legen. Ich bin Geschäftsmann, Ross, und ich kenne meine Kunden.«
    Ross konnte nichts antworten. Vielleicht hatte Curtis ja sogar die Pennys, die er gefunden hatte, selbst unter das Stativ gelegt. Vielleicht hatte Ross die letzten neun Monate seines Lebens völlig vertan. Er war auch nicht besser als die O’Donnells – er hatte nur das gesehen, was er glauben wollte.
    Vielleicht hatte sie tatsächlich übersinnliche Fähigkeiten, denn genau in diesem Moment kam Maylene nach draußen. »Curtis? Was ist denn?«
    »Ach, nichts weiter. Ross möchte die Branche wechseln, er will zu den Moralpredigern.«
    Ross trat hinaus in den peitschenden Regen und stapfte zu seinem Auto. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Digitalkamera und seinen Rucksack zu holen. Das waren Dinge, die er ersetzen konnte, im Gegensatz zu seiner Selbstbeherrschung, die ihm rasch abhandenzukommen drohte. In seinem Auto drehte er die Heizung voll auf, versuchte, die innere Kälte zu vertreiben, die nicht verschwinden wollte. Er fuhr eine Meile, ehe er merkte, dass er das Licht nicht eingeschaltet hatte. Dann hielt er am Straßenrand und schnappte nach Luft.
    Ross wusste, wie man paranormale Phänomene wissenschaftlich aufzeichnete und wie man die Ergebnisse interpretierte. Er hatte Lichter gefilmt, die über Gräbern tanzten; er hatte Stimmen in leeren Kellern aufgenommen; er hatte Kälte an Orten gespürt, wo sich kein Lüftchen regen konnte. Neun Monate lang hatte Ross geglaubt, einen Zugang zu der Welt gefunden zu haben, in der Aimee war … und jetzt stellte sich heraus, dass diese Tür bloß auf die Wand gemalt war.
    Verdammt, allmählich gingen ihm die Ideen aus.

    Als Az Thompson erwachte, hatte er den Mund voller Steine, klein und glatt wie Olivenkerne. Er spuckte fünfzehn auf die runzelige ledrige Haut seiner Handfläche, ehe er sich zutraute, wieder Luft zu holen, ohne zu ersticken. Er schwang die Beine über den Rand der Armeepritsche. Er versuchte, die Gewissheit abzuschütteln, dass aus diesen Steinen, sollte er in der harten Erde unter seinen Füßen begraben werden, ein krebsartiges, schwarzes Dickicht wachsen würde wie das, das in dem Märchen des Weißen Mannes über ein Mädchen, das nur durch einen Kuss geweckt werden konnte, ein Schloss überwucherte.
    Es machte ihm nichts aus, in der freien Natur zu übernachten. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er immer ein Bein in der Natur und ein Bein in der Jankee -Welt gehabt. Az steckte den Kopf zum Zelt hinaus und sah, dass sich schon einige zum Frühstück versammelt hatten. Ihre Schilder – Plakate, die um den Hals getragen wurden, und Transparente – lagen auf einem Haufen wie die Puppen eines Bauchredners, harmlos, ohne einen Geist, der sie beseelte. » Haw «, brummte er und ging auf das kleine Lagerfeuer zu, wo man ihm Platz machen würde.
    Die anderen behandelten ihn so, wie sie Abraham Lincoln behandeln würden, wenn er aus dem Zelt spaziert käme – mit Demut und einiger Ehrfurcht angesichts der Tatsache, dass er immer noch am Leben war. Az war nicht so alt wie Lincoln, aber viel fehlte nicht. Er war 102 oder 103 – er hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu zählen. Da er die aussterbende Sprache seines Volkes beherrschte, wurde er als Lehrer geachtet. Außerdem machte ihn schon allein sein Alter zum Stammesältesten, was einige Bedeutung gehabt hätte, wenn die Abenaki ein rechtlich anerkannter Stamm gewesen wären.
    Az hörte jeden einzelnen Wirbel in seinem Rückgrat knirschen, als er sich auf einem Klappstuhl niederließ. Er hob ein Fernglas auf, das neben der Feuerstelle lag, und spähte auf das Land, eine Parzelle an der nordwestlichen Kreuzung von Montgomery Road und Otter Creek Pass. Auf seiner höchsten Stelle stand das große, weiße Haus, jetzt ein Schandfleck. Es würde als Erstes verschwinden, wie Az wusste, der alles über dieses Grundstück wusste, von den Landvermessungsergebnissen bis hin zur Nummer des Grundbucheintrags. Er wusste, an welchen Stellen der Boden im Winter zuerst vereiste und wo niemals Grün wuchs. Er wusste, welches
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