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Inspektor Jury spielt Domino

Inspektor Jury spielt Domino

Titel: Inspektor Jury spielt Domino
Autoren: Martha Grimes
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Erster Teil
Nacht an
der Engelstiege
1
    Die eine Gesichtshälfte schwarz, die andere weiß geschminkt, tauchte sie aus dem Nebel auf und ging die Grape Lane hinunter. Es war Anfang Januar, der Seenebel drang von Osten her ein und verwandelte die mit Kopfsteinen gepflasterte Straße in einen wabernden Tunnel, der sich bis zum Wasser hinunterschlängelte. Die Bucht war den Sturmböen voll ausgesetzt, und mit ihrer sichelförmigen Krümmung wurde die Grape Lane zu einem Windfang für die hereinwehenden Böen. In der Ferne stieß das Nebelhorn, Whitby Bull genannt, vier langgezogene Klagelaute aus.
    Der Wind blähte ihren schwarzen Umhang auf, um ihn dann um ihre Knöchel zu wirbeln. Sie trug ein weißes Satinhemd und weiße Satinhosen, die in schwarzen, hochhackigen Stiefeln steckten. Außer dem Klicken ihrer Absätze war nur das heisere Gah-Gah der Möwen zu hören. Eine tippelte über ihr auf dem Sims einer Hauswand und pickte gegen die Fensterscheiben. Schutzsuchend drängte sie sich an die Mauern der niedrigen Häuser. Sie blickte die Gäßchen hoch, die alle oben zu enden schienen, in Wirklichkeit aber über verwinkelte Treppchen zu andern Durchgängen führten. Die Hauseingänge mit den schwarzen eisernen Fußabstreifern lagen direkt an der engen Straße. Als jemand auf der andern Straßenseite an ihr vorüberging, blieb sie einen Augenblick lang in dem trüben Licht der Laterne stehen. In diesem Nebel war es jedoch unmöglich, jemanden zu erkennen. Am Ende des Sträßchens sah sie den Gasthof an der Mole, dessen Fenster wie Opale in der diesigen Dunkelheit schimmerten.
    Bei dem schmiedeeisernen Gittertor der Engelsstiege blieb sie stehen. Die breiten Stufen zu ihrer Linken verbanden die Grape Lane und die darüberliegende Scroop Street mit der Marienkapelle, die am höchsten Punkt des Dorfes lag. Sie schob den Eisenriegel zurück und stieg die Treppe hoch; es war ein gutes Stück bis zur Plattform, auf der eine Bank zum Ausruhen einlud. Jemand saß darauf.
    Die Frau in Schwarzweiß erschrak und tat einen Schritt zurück nach unten. Sie wollte gerade etwas sagen, als die Gestalt sich erhob und zwei Arme, wie von unsichtbaren Schnüren gezogen, hervorschnellten – vor, auf und ab. Sie schlugen so lange auf die Frau ein, bis sie wie eine Puppe zu Boden fiel, und wenn diese andere Gestalt sie nicht an ihrem Umhang festgehalten hätte, wäre sie die Treppe hinuntergerollt. Arme und Beine von sich gestreckt, blieb sie auf der Treppe liegen; ihr Kopf hing nach unten. Die Gestalt drehte sich um, stieg beinahe achtlos über sie hinweg und ging, um nicht in die Blutlache zu treten, dicht an der Mauer die Engelsstiege hinunter, zurück zur Grape Lane.
    Es war die Nacht vor dem Dreikönigsfest.

2
    «Es gab schon immer welche, die ungestraft morden konnten!» Adrian Rees knallte sein Glas auf den Tresen. Er hatte gerade ein Loblied auf die russische Literatur und Raskolnikow gesungen.
    Im «Alten Fuchs» schien das jedoch niemanden besonders zu interessieren.
    Adrian tippte gegen das leere Glas. «Noch eines, Kitty, mein Schatz.»
    «Nichts ‹Kitty mein Schatz›, bevor ich kein Geld sehe, kriegst du nichts.» Kitty Meechem fuhr mit dem Lappen über den Tresen, um das Bier aufzuwischen, das wie Gischt aus dem Glas seines Nachbarn gespritzt war, als er seines so schwungvoll aufsetzte. «Mal wieder sternhagelvoll.»
    «Sternhagelvoll, was …? Ah, Kitty, mein Herzblatt …», sagte er einschmeichelnd, während seine Hand nach ihren hellbraunen Locken griff; sie versetzte ihr sofort einen Klaps. «Nicht einmal einem Landsmann willst du einen spendieren?»
    «Bah! Du und Landsmann, du bist so irisch wie der Rote.»
    Der Rote war ein Kater, der zusammengerollt auf einem alten Teppich vor dem glühenden Ofen lag. Er lag immer dort, unbeweglich wie eine Porzellanfigur. Adrian fragte sich, wann er sich wohl all die Wunden und Schrammen zuzog, die er aufwies.
    «Faul genug ist er für einen Iren», sagte Adrian.
    «Hört euch das an – du bist mir der Richtige, den ganzen Tag schmierst du nur herum und malst splitternackte Weiber.»
    Diese Bemerkung rief am Tresen ein paar Lacher hervor. «An dieser Katze könnt sich manch einer ein Beispiel nehmen.»
    Adrian lehnte sich über den Tresen und flüsterte für alle hörbar: «Kitty, ich werd in ganz Rackmoor rumerzählen, daß du für mich nackt Modell gestanden hast!»
    Kichern von links und Gekrächze von rechts, wo Billy Sims und Corky Fishpool saßen. Ohne mit der Wimper zu
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