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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist
Autoren: Ulrich Woelk
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auch die Geschichte eine Quelle von Ewigkeitskosten ist.
    Noch heute finden Paraden, Gottesdienste und Historikerkonferenzen über und zur Erinnerung an Schlachten, Hinrichtungen und Pogrome statt, die Jahrhunderte oder Jahrtausende zurückliegen. Und keines dieser Ereignisseist auch nur annähernd so umfassend und schockierend dokumentiert wie die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands. Daran wird kein Entschädigungsfonds und keine Versöhnungsgeste jemals etwas ändern.
    Es wird also kein Vergessen für Deutschland geben, aber muss dies notwendigerweise auch für seine Familie gelten? Für seine Kinder, die in dem engen Salon des Bestattungsschiffs artig ihre Bücher lesen und nicht wissen, warum sie eigentlich hier sind? Vielleicht ist es besser, ihnen irgendwann einmal zu erzählen (und auch das ist ja die Wahrheit), dass ihre Großtante Lisa, die sich auf See hat bestatten lassen, eine Art Aussteigerin gewesen ist und für ihre Zeit eine echt coole, unangepasste Frau. Und dass er sie deswegen gemocht hat, weil sie ihr eigenes selbstbestimmtes Leben gelebt hat und das etwas ist, was er sich auch für seine Kinder wünscht.
    Er löst seinen Blick von der blumengeschmückten Urne und wendet sich zu Anke. »Familien sind kompliziert«, sagt er. »Man kann in ihnen nicht alle Konflikte lösen.«
    »Wahrscheinlich nicht«, nickt sie und geht zur Reling. Er folgt ihr, stellt sich neben sie und legt den Arm um ihre Schultern. Eine Weile stehen sie schweigend da, die Blicke in den blauen Himmel über der Nordsee gerichtet. Schließlich sagt Anke: »Und weißt du, woran ich mich auch noch erinnere?«
    »Woran?«
    »Dass wir an diesem Tag, dem Geburtstag deiner Oma, im Schlosspark spazieren gegangen sind. Ich fand das ziemlich romantisch und dachte plötzlich, dass wir beide ja vielleichtdoch mehr füreinander sein könnten als die guten Freunde, die wir dreißig Jahre lang gewesen waren.«
    »Ach ja?«
    »Ja. Und dann war ich furchtbar enttäuscht, als du eine SMS bekommen hast und die Feier danach mehr oder weniger fluchtartig verlassen hast. Mir war sofort klar, dass der Grund dafür nur ein Date sein konnte. Und ich dachte, wie blöd kann man sein, sich kurz nach einer Scheidung einzubilden, es könnte vielleicht etwas mit dem ältesten Freund werden. Typisch ich, dachte ich und habe mich, nachdem du weg warst, still und leise betrunken.«
    Wenn sie wüsste, wie gut er sich an diesen Abend erinnert. Aber er sagt: »1999 – lange her.«
    »Wer war sie eigentlich? Dein Date, meine ich. Weißt du das noch, oder war es so eine kurze Geschichte?«
    »Du glaubst, ich hätte kurze Geschichten gehabt?«
    »Ich komme schon damit klar«, sagt sie und lächelt etwas wehmütig. Die Küste mit den hellen Dünen ist klein geworden. Wie weit muss man sich vom Land entfernen, um die Asche eines Menschen zu verstreuen? Vielleicht hängt es mit den Strömungen zusammen. Die Toten wollen hinaus aufs offene Meer und nicht zurück an Land.
    Eine kurze Geschichte – so kann man es nennen. So kurz, dass es sie eigentlich gar nicht gibt. Anke weiß nichts von Zoe – niemand weiß etwas von ihr. Niemand außer seiner Mutter, die vor vier Jahren an Krebs gestorben ist. Er ist der Einzige, der die Wahrheit kennt. Selbst Zoe kennt sie nicht, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Geschichte. Für sie war es genau das: eine kurze Geschichte. Sie war eine Woche langmit einem Mann zusammen und dann nicht mehr. Das ist alles, was sie weiß.
    Nach jener Nacht auf der Intensivstation des Admiraal de Ruyter Ziekenhuises hat er Zoe nicht wiedergesehen. Jedenfalls nicht so, wie man sich das Wiedersehen eines einstigen Liebespaares vielleicht vorstellt. Und er hat es sich auch immer versagt, Zoes Namen in eine Internet-Suchmaschine einzugeben, um seine Neugier zu befriedigen und etwas über ihr Leben und ihre Karriere in Erfahrung zu bringen.
    Aber die Welt ist auch ohne soziale Netzwerke klein genug – insbesondere die des Jazz. Vor drei oder vier Jahren stand er im Foyer eines kleinen Jazz-Clubs und wartete auf Anke. Er betrachtete die Plakate an den Wänden, und dann sah er sie: Zoe in Schwarzweiß, am vorderen Rand einer Bühne, schlank im Scheinwerferlicht. Statt Jeans und Feinripptop trug sie ein langes Kleid aus einem schwarzen, glitzernden Material, schulterfrei, recht tief dekolletiert (nicht zu tief ) und im Nacken geschlossen. Von der Seite beleuchtet, beugte sie sich mit halb geschlossenen Augen dem Mikrofon entgegen. Eine
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