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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist
Autoren: Ulrich Woelk
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abwehrend die Hand. »Ich bin nicht auf ihrerSeite, ich werfe dir nichts vor. Eigentlich habe ich das Gleiche gesagt wie du: Dass die Vergangenheit unserer Firma als Begründung dafür, dass sie sich für immer von der Familie – von mir – abgewendet hat, nicht ausreicht. Sie hätte kämpfen können. Aber das hat sie zurückgewiesen. Und sie hat davon gesprochen, dass es etwas anderes gewesen sei, das sie nicht habe ertragen können. Mehr wollte sie nicht sagen. Sie meinte, ich sollte dich danach fragen.«
    Lisa schenkt Kaffee ein und setzt sich. Dann schweigen sie lange. Er entdeckt in ihren Zügen Ähnlichkeiten mit Zoe. So wie Lisa seine Tante ist, ist sie auch Zoes Tante. Hätte er das nicht schon vorher erkennen können? Nein, entscheidet er. Er sollte sich keinen Vorwurf machen – jedenfalls nicht den, dass er es hätte wissen müssen.
    Schließlich sagt sie: »Wir sollten nicht darüber sprechen.«
    »Warum nicht?«
    »Weil es vorbei ist.«
    »Offenbar ist es das noch nicht.«
    Sie steht auf und verschwindet für ein paar Minuten im Haus. Dann kommt sie mit einer dünnen Mappe zurück, eigentlich nur ein gefalteter Pappdeckel in Briefpapiergröße. Sie nimmt ein stark vergilbtes Blatt heraus und reicht es ihm. In drei Spalten stehen jeweils fünf kurze Absätze untereinander, links und rechts in kyrillischen Buchstaben, in der Mitte, unter der Überschrift Merkblatt , auf Deutsch. Unter Punkt drei heißt es: Jeder Geschlechtsverkehr mit Personen deutscher Staatsangehörigkeit ist bei Todesstrafe verboten. Frauen werden in ein Konzentrationslager eingewiesen.
    »Diese Zettel wurden in den Betrieben verteilt und hingenin den Zwangsarbeiterlagern an den Barackentüren. Die Geschichte, nach der du suchst, ist denkbar einfach: Josif Tschanoff, der Ingenieur, dessen Krankenakte du gefunden hast, und ich hatten uns ineinander verliebt. Als Ingenieur konnte Josif sich im Werk zuerst relativ frei bewegen. Die Entwicklungsabteilung befand sich wie die Krankenstation im Hauptgebäude. Wir sind uns regelmäßig auf dem Korridor begegnet …« Sie versinkt für einen Moment in ihrer Erinnerung. Er sitzt da und wartet, bis sie fortfährt. »Ich habe versucht, ihn zu schützen, aber die diensthabende Krankenschwester hat seine Handverletzung nicht ernst genommen. Sie hielt alle Russen, Ukrainer und Polen für arbeitsscheu. Nach der Amputation des Zeigefingers kam Josif regelmäßig zur Versorgung der Wunde in die Ambulanz. Wir waren vorsichtig. Aber vielleicht ist es gar nicht möglich, Liebe geheim zu halten. Vor allem nicht, wenn in deiner Nähe jemand nur darauf wartet, dass du dich verrätst.«
    »Diese Krankenschwester?«
    »Sie war ein Gestapoflittchen. Sie hat ihren Lebensstandard mit Denunziationen und anderen Gefälligkeiten aufgebessert. Wir hätten das wissen müssen, wir haben es gewusst, aber was sollten wir machen? Wir haben wohl geahnt, dass wir sowieso nicht viel Zeit haben würden. Also durften wir die wenigen kostbaren Augenblicke, die wir für uns hatten, nicht halbherzig verstreichen lassen. Sonst hätten wir am Ende nicht einmal die gehabt.«
    Ihre Stimme ist zuletzt trocken und brüchig geworden. Sie nimmt wieder ein Papier aus ihrer Mappe und reicht es ihm über den Tisch. Diesmal ist es der Durchschlag einesmaschinengetippten Briefs, abgesendet vom Leiter des Werksschutzes, einem Sturmbannführer SS Walter von Daurich, an die Geheime Staatspolizei, Staatspolizeistelle Berlin: Betrifft: Besonderes Vorkommnis in den Ziegler-Elektro- AG Werken – Exekution eines russischen Zivilarbeiters. – Auf Befehl des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei ist der aus den besetzten altsowjetrussischen Gebieten stammende Josif Tschanoff, geboren am 28. 11. 1919 in Kursk, zuletzt beschäftigt in der Ziegler-Elektro- AG , Berlin, wegen seines verbotenen Geschlechtsverkehrs mit der Reichsdeutschen Lisa Ziegler aus Berlin gestern vormittag 11 Uhr auf dem Werksgelände der o. g. Aktiengesellschaft erhängt worden. Gez. W. v. Daurich.
    Er weiß nicht, was er sagen soll. Es wäre wohl lächerlich, wenn er, der Neffe, dem nie ein Haar gekrümmt worden ist, sie nach sechzig Jahren trösten wollte. Lisa hat Tränen in den Augen. Die Tränen sammeln sich in ihren Falten. Tränen alter Menschen kennt er nur von Beerdigungen. Diese hier fließen aus einer anderen Quelle. Sie erschüttern ihn.
    »Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wäre, wenn ich nicht die Tochter des Firmenbesitzers gewesen wäre. Mein
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