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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist
Autoren: Ulrich Woelk
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Vater wollte die Gestapo nicht in seinem Werk haben, aber er konnte nichts dagegen tun. Als Mindeststrafe und erzieherische Maßnahme setzte von Daurich durch, dass die Hinrichtung auf dem Werksgelände stattzufinden hatte und ich dabei zusehen musste …«
    »Du musst das nicht erzählen.«
    »Ich werde es dir erzählen. Ich möchte, dass du weißt, wie es war. Auf dem Innenhof wurde ein Galgen errichtet, und alle mussten sich um Viertel vor elf dort einfinden. Josifwurde aus einem Gitterwagen der Gestapo zum Galgen geführt, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und mit einem Pflock im Mund. Die Schlinge, die man ihm um den Hals legte, war aus Stahl. Hinter dem Galgen stand die Drehbank, an der er sich verletzt hatte. Das Stahlseil war an der Drehbank wie an einer Winde befestigt. Gestapo und SS gingen durch die Reihen und kontrollierten, dass alle zusahen. Der Hinrichtungsbefehl wurde verlesen, jemand setzte die Drehbank in Bewegung, bis Josifs Körper über den Köpfen hing. Er zuckte sehr lange. Erhängen ist kein schneller Tod. Um so zu sterben, braucht man über eine Minute.«
    Sie gibt ihm ein kleines Schwarzweißfoto. In einer Ecke erkennt man den verblassten Randbogen eines Stempels. Josif Tschanoff war ein Mann mit schmalem Gesicht, heller Haut und welligen blonden Haaren. Die Rassenideale der Nationalsozialisten zugrunde gelegt, hätte er ohne weiteres Deutscher sein können.
    »Es ist das Foto, das auf seinem Personalbogen fehlt. Ich habe es nach dem Krieg zusammen mit dem Hinrichtungsbescheid und den Ostarbeitererlassen an mich genommen. Aber ich hatte nicht vor, Anklage zu erheben. Von Daurich war tot, und die Krankenschwester, die uns verraten hat, habe ich nie wiedergesehen. Es sollte vorbei sein.«
    Sie gehen noch einmal ans Meer. Der Sand ist grau. Im Gegensatz zu ihrem Spaziergang vor ein paar Tagen hat sich die Brandungslinie an die Dünen herangeschoben. Das Strandgras bewegt sich unruhig in den Böen. Tante Lisa hält ihr Gesicht in die Luft. Der Seewind trägt kleine Tropfen heran, die auf den Lippen salzig schmecken. Wie Tränen.
    »Ich bin mir bis heute nicht sicher«, sagt sie, »ob es richtig war, mit deiner Mutter darüber zu sprechen. Das war 1969, beim vierzigsten Geburtstag deines Onkels Georg. Sie hatte kurz zuvor angefangen, Fragen über die Vergangenheit der Firma zu stellen. Ich hatte ihr von dem Archiv in Berlin erzählt, und sie war empört über die Dokumente dort. Es kam zu einem Streit zwischen ihr und meinen Brüdern. Ich saß dabei, und nach einer Weile kam alles, was ich verdrängt hatte, wieder hoch. Ich schlug mich auf die Seite deiner Mutter, und irgendwann habe ich mit ihr das Fest verlassen und ihr alles erzählt. Die ganze Geschichte. Ich dachte: Warum soll ich schweigen? Es ist die Wahrheit.«
    Die Wahrheit. Jetzt kennt er sie also. Jetzt weiß er, warum seine Mutter ihn verlassen hat. Und im selben Moment, da er es weiß, kommt ihm seine eigene Geschichte fast bedeutungslos vor. Was ist sein Schicksal, seine Jugend ohne Mutter, gegen den Tod eines Mannes, dessen einziges Vergehen es war, geliebt zu haben.
    Er sagt: »Habt ihr noch Kontakt?«
    »Deine Mutter und ich?« Sie schüttelt den Kopf. »Aus irgendeinem Grund wollte sie das nicht. Ich habe sie nach diesem Abend nicht wiedergesehen. Aber vor ein paar Jahren kam ein Paket mit den beiden Bildern, die dort hängen, und einem Brief, in dem sie sich zugleich bei mir entschuldigt und bedankt. Deswegen weiß ich, dass sie in den Niederlanden lebt, aber das ist auch alles. Ich wäre gerne mit ihr in Verbindung geblieben, aber ich habe akzeptiert, dass sie das nicht wollte. Offenbar hat sie mich trotz allem zu sehr als Teil der Familie gesehen.«
    Er nickt, aber er weiß, dass es nicht so war – jedenfalls nicht ausschließlich. Der wahre Grund für die Entscheidung seiner Mutter, alle Brücken abzubrechen, lag in ihrer Überzeugung, Zoe beschützen zu müssen. Und er weiß jetzt also auch wovor: vor einer Familie, die bei der Ermordung des Geliebten der Tochter zugesehen hat, ohne aufzubegehren.
    In dem Punkt war seine Mutter konsequent und gründlich. Sie ist beim Verschweigen von Zoes Existenz nicht das geringste Risiko eingegangen. Nicht einmal Lisa hat sie eingeweiht. Dass er eine Schwester hat, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Ein Geheimnis, von dem nur zwei Menschen wissen: seine Mutter und er.
    Lisa bleibt stehen, bückt sich, nimmt eine Muschelschale in die Hand und betrachtet sie eine Weile.
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