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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist
Autoren: Ulrich Woelk
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gelernt,nicht viel, aber genug, um seiner Begrüßung noch ein paar freundliche Bemerkungen über das Wetter hinzuzufügen. Er tut es gern, er mag den Klang der Sprache.
    In der Mitte des Schiffes ist ein kleiner, recht wohnlich eingerichteter Miniatursalon für die Trauergäste. Sie setzen sich an die beiden schmalen, fest mit dem Schiffsboden verschraubten Tische. Außer Anke und seinen beiden Kindern haben sich noch zwei Freundinnen von Tante Lisa am Kai eingefunden, beide weit über achtzig. Sie hat zum Schluss in einer Institution für betreutes Wohnen gelebt, in der eine angenehme, menschliche Atmosphäre herrschte. Aber sie hat dort kaum noch Freundschaften geschlossen.
    Zwischen ihm und Tante Lisa hat sich in den vergangenen zwölf Jahren eine besondere Beziehung entwickelt. Sie haben es sogar noch zu einer kleinen Tradition gebracht. Er hat sie immer im Oktober besucht und ist mit ihr im Meer schwimmen gegangen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sie ihn vor ein paar Jahren gefragt hat, ob er bereit sei, nach ihrem Tod ihre Asche im Meer zu verstreuen.
    Er war sich nicht sicher, ob er ihr die Erfüllung dieser Bitte wirklich zusagen sollte. Eine Seebestattung. Ein Ende ohne festen Ort, ohne das Hinterlassen einer materiellen Spur. Etwas daran gefiel ihm nicht. Tante Lisa hat keine Kinder. Alles, was nach ihrem Tod von ihrer Existenz bleiben würde, wären die Erinnerungen ihrer Freunde. Seine Erinnerungen. Zu wenig, dachte er.
    Seine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, sind zehn und acht Jahre alt. Sie wollen sich die Zeit mit ihren Spielkonsolen vertreiben, aber das erlaubt er nicht. Etwas mürrisch,aber letztlich gehorsam nehmen beide ein Buch aus ihren Beuteln und fangen an zu lesen.
    Er verlässt den kleinen Salon und geht zum Vorderdeck. In einem weißen Aufbau mit Holztür und Fenster steht die blumengeschmückte Urne neben einem ewigen Licht. Das Schiff legt ab und dreht seinen Bug in die See. Möwen flattern auf. Ihre hohen Schreie mischen sich in das dunkle Brummen des Schiffsdiesels. Anke stellt sich neben ihn. »Weißt du, woran ich gerade denken muss?«
    »Woran?«
    »An den fünfundneunzigsten Geburtstag deiner Großmutter. Wir haben in einem Landschloss in der Nähe von Berlin gefeiert. Erinnerst du dich noch daran?«
    »Der fünfundneunzigste, sagst du?«
    »Du kamst mit Rolf eine Stunde zu spät, weil ihr einen Unfall hattet. Wir saßen nebeneinander, und du wusstest noch nicht, dass ich mich von Paul getrennt hatte. Damals hast du mir zum ersten Mal von Tante Lisa erzählt. Und dass du sie besuchen wolltest, um zwischen ihr und dem Rest der Familie zu vermitteln. Aber deine Großmutter wollte das nicht.«
    »Das weißt du noch?«
    »Ich finde es traurig, dass dein Vater und dein Onkel nicht zur Beisetzung ihrer Schwester kommen. Sie sollten sie wenigstens auf ihrem letzten Weg begleiten. Was spielt es jetzt noch für eine Rolle, dass deine Tante ihr Erbe ausgeschlagen und sich für ein Leben in Holland entschieden hat.«
    »Vielleicht sind Verletzungen unter Geschwistern besonders schmerzhaft«, sagt er und fügt hinzu: »Ich weiß es nicht. Ich habe keine.«
    Er hat Anke den wahren Grund, warum es zum Zerwürfnis zwischen Tante Lisa und ihren Eltern und Brüdern gekommen ist, nie erzählt. Vielleicht hätte er es tun sollen, aber irgendetwas hat ihn immer davon abgehalten. Anke ist intelligent und sensibel. Die Geschichte von Tante Lisa und der Hinrichtung Josif Tschanoffs wäre ihr sehr nahegegangen, und sie hätte sich darüber empört. Vielleicht hätte sie die alten Anklagen noch einmal wiederholt. Vielleicht wäre erneut ein Riss durch die Familie gegangen, ebenso unheilbar wie der erste. Wäre es das jetzt noch wert? Jetzt, da nichts mehr zu ändern und wiedergutzumachen ist? Sollen sich seine Kinder als Erben irgendwann mit Rolfs Kindern darüber entzweien, welche Zustände in der Firma ihres Urgroßvaters während des Zweiten Weltkrieges geherrscht haben? Eines Krieges, der dann seit hundert Jahren Vergangenheit sein wird?
    Vor kurzem ist er bei Verhandlungen mit der RAG, der ehemaligen Ruhrkohle-Aktiengesellschaft, auf einen Begriff gestoßen, den er noch nicht kannte: Ewigkeitskosten. Er wusste nicht, dass der Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet mit seinen Halden und Schächten Umweltschäden hinterlassen hat, die dauerhaft – auf Ewigkeit – versorgt und in Schach gehalten werden müssen. Aber er hatte bei dem Begriff noch eine andere Assoziation. Er fragte sich, ob nicht
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