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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
Autoren: Sandra Hoffmann
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ihm die Wadenhaut blutig, und weil er sich in dem Strauch verfängt, fällt er auf die Seite, will sich abstützen, spürt das Dorngestrüpp in der Hand, schreit auf vor Schmerz, leise, knapp, wie eine Maus beim ersten Biss der Katze, richtet sich dennoch auf, die Hand voller kleiner Brombeerdornen, Kratzer und Blut, Kletten und Brombeerranken im Hemdleinen. Er befreit seinen Fuß, so schnell es geht, aus dem Gestrüpp, während ihm das Herz rast, Alarm schlägt, weil die Autogeräusche näher kommen und ihn antreiben. Da steht er gerade wieder aufrecht, spürt vor Aufregung den Schmerz nicht mehr, um den notwendigen Schritt aus dem Graben zum Wald hin zu tun, und dabei sieht er sich um. Nun weiß er, sie haben ihn gesehen.
    Alle Wege, die in die Stadt führten, haben sie gleichzeitig und häufig mit mehreren Fahrzeugen befahren, und jeden, den sie auf der Straße kriegen konnten, der nur irgendwie in ihr Bild passte, ihr Schema, den haben sie kontrolliert. Einkassiert, wenn er passte. Frauen auch. Und all jene weggestoßen, angespuckt, vor dem Auto hergetrieben, die sie für nutzlos hielten. Kranke, Alte, Schwangere und jene, die sie nicht verpflichten konnten, all die. Aber wenn du der Richtige warst, dann war Schluss.
    Er denkt: Jetzt wirft sie den Kopf in den Nacken, jetzt zeigt sie die Zähne, als wolle sie nicht glauben, dass er, Bili ń ski, so ein Weichei war, einer, der sich nicht wehrte.
    Da war nichts mehr mit Wehren, sagt er. Da half nichts mehr. Er muss sie anschauen. Sehen. Das Weiß in ihren Augen schien ihm noch weißer als zuvor. Sie ist wütend. Die dunklen Augen stechen.
    Aber die konnten einen doch nicht einfach mitnehmen, sagt sie. Hat da keiner was getan? Ihre Stimme ist schriller geworden, so kennt er sie nicht.
    Da konnte sich niemand wehren, antwortet Bili ń ski. Er sagt es mit Nachdruck, es gab keinen Anlass, zu zögern. Da war niemand, sagt er. Es war Krieg.
    Der Kanzler?
    Hitler! Und in Polen, oder was noch davon übrig geblieben war, kein Kanzler weit und breit, sagt er, ein Exilpräsident, der wenig tun konnte und noch weniger tat.
    Marita hatte eine ausgeprägte Mimik, wenn sie nicht mehr nur lächelt, fängt ihr Gesicht an zu leben, sich rasch zu verändern, als spiegle es eine innere Bewegung. Jetzt zieht sich ihre Stirn in Falten, ihr Mund schürzt sich, als holte er aus zu einem ganz gewaltigen Kuss, um sich genauso schnell wieder zu entspannen und schließlich reglos stumm zu werden, mit nach innen gewendeten Lippen.
    Sie haben in der Schule nicht gerade gut aufgepasst, sagt Bili ń ski.
    Marita antwortet nicht. Sie sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl neben Bili ń skis Bett, der jetzt immerzu befürchtet, gleich springe sie auf und verlasse den Raum.
    Fragen Sie doch etwas, sagt er und schaut sie so zugewandt an, dass er hofft, sie könne ihm ansehen, dass sie alles fragen darf, was ihr einfällt.
    Marita schweigt.
    Sie schaut ihn nicht an. Er versteht es nicht. Er schweigt auch. Sein Bauch fühlt sich hart an. Er tut nicht weh. Es tut ihm nur selten etwas weh mit den Medikamenten. Manchmal brennt und sticht der Nerv im Gesicht; das ist untertrieben. Ganz leicht geht das mit dem Kopfkino in der Zwischenzeit, er schließt die Augen, wartet, befindet sich mitten in diesem schon so weit entfernt gewesenen Leben. Als habe er alles gestern erlebt, so nah. Glück oder Unglück. Das spielt dabei keine Rolle mehr.
    Sie haben mich aus den Dornen gezogen. Die Wagen sind auf mich zugerast, haben hart gebremst, während ich noch damit beschäftigt war, mein vollkommen aufgekratztes linkes Bein aus den Brombeerranken zu befreien, den Rücken zur Straße.
    Bürschchen, Bili ń ski ahmt den Soldaten nach, der das R rollen ließ, wie er es davor nie gehört hatte. Bürrr-schchen. Der trug ein kleines Bärtchen am Kinn und war ansonsten aalglatt rasiert und eingeölt. Am schlimmsten aber, er stank zum Himmel.
    Marita lacht ein schnelles aufmunterndes Lachen.
    Er hat mich am Arm gepackt, seine Hand war riesig, sie umschloss meinen Oberarm ganz lässig, sagt Bili ń ski, und er denkt an das schmächtige zarte Kerlchen, das er mit sechzehn war. Da hatten sie mich.
    Wie alt bist du, fragte der Soldat.
    Fünfzehn, habe ich geantwortet, auf Deutsch, weil ich so blöd war. Ich Idiot.
    Bist du Deutsch?, fragte er. Wie heißt du?
    Janek.
    Er: Du hast doch einen ganzen Namen!
    Janek Bili ń ski.
    Bist niemals fünfzehn. Seine Hand klemmte wie eine Schelle um meinen Arm, er schob mich zum Fahrzeug, aus dem schon
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