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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
Autoren: Sandra Hoffmann
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geschlossenen Pupille, ihre Bäuche und Kanten, ihre Kreuze. Er mag die runden Zahlen lieber, acht, neun.
    Ein Klopfen und die sich öffnende Tür.
    Herr Bili ń ski!
    Das ist der lange Assistent.
    Er dreht sich aus dem Kissen, er möchte die Augen nicht öffnen, zu sehr fürchtet er den Schmerz.
    Sie haben starke Schmerzen?
    Wahnsinnig, sagt Bili ń ski.
    In der Wange?
    Die Tiere, jetzt beißen sie.
    Wie bitte?
    Ja, in der Wange, im Ohr, im Auge, im Mund.
    Dann spritze ich Ihnen jetzt noch ein zusätzliches Schmerzmittel, das kennen Sie schon.
    Er öffnet die Augen nicht.
    Wenn die Zahlen aus zwei Ziffern bestehen, kippt ihm die hintere Ziffer weg, sie stürzt in die vordere hinein, als könne sie sich nicht halten, sie will sich anlehnen, sie will sich doch nur anlehnen, aber die vordere hält das nicht aus. Sie fallen um. Die Einsen der Elf liegen auf dem Boden. Er will sie aufstellen, aber es gelingt ihm nicht. Er wartet. Die Eins gehört nicht zur Nummer. Er hat sie doch immer gekannt. Doch, die Eins gehört dazu. Warum fällt sie dann um? Er malt eine Drei an die Tafel, er sieht sie stehen, weiß auf grün, wie auf einer Schultafel. Sie steht, sie fällt nicht um. Aber sie steht an der falschen Stelle. Sie steht in der Mitte, die Drei ist die Ziffer in der Mitte. Er muss ihr die Sieben zur Seite schreiben, damit sie nicht nach vorne fallen kann. Er schaut seiner Hand zu, das ist doch die Hand seines Vaters, das ist doch die Lehrerhand. Diese Hand malt jetzt eine Sieben, aber nicht einfach so eine Sieben, sondern eine mit einem Kreuz in der Mitte. Das will er nicht. Die braucht kein Kreuz. Das muss er anders machen. Da sieht er die bessere Sieben, eine Steilwand hoch und einen Vorsprung darüber, wie ein Dach. Sie bleibt stehen. Sieben. 7. Es funkelt hinter dem Augenlid, Blitze über Blitze.
    Nicht, bitte!
    Es ist nichts passiert, sagt die Stimme.
    Der ist ja immer noch da, dieser Assistent!
    Jetzt wird es bestimmt gleich besser! Sagt die Stimme.
    Er hat Fieber.
    Bitte? Bili ń ski hört seine eigene Stimme.
    Sie haben Fieber!
    Er soll ihn nicht durcheinanderbringen jetzt.
    Es kann nichts passieren, es kann nichts passieren. Er sieht sie. Die Ziffern stehen sicher an der Tafel, sie bleiben. So bleiben sie. Ist da noch jemand im Raum? Macht da jemand etwas an seinem Bett? Er öffnet kurz die Augen.
    Ich beziehe Ihnen nur ein frisches Kissen! Das ist Renate.
    Er spürt, dass er nickt.
    Er möchte allein sein, niemand soll in seinem Rücken herumfuchteln. Nicht jetzt. Ihm ist heiß, aber kalt an den Füßen, warum nehmen sie ihm eigentlich morgens immer seine Bettsocken weg, sie wissen das doch, dass seine Füße leicht frieren. Er zieht die Beine an. So.
    Sein Kopf wird gehoben: Nicht!
    Gleich fertig. Jemand hält seinen Kopf fest und legt ihn dann wieder sanft auf das Kissen, das tut nicht weh. Aber sie soll jetzt gehen. Er wartet. Er sieht das Orange hinter den Augenlidern, dort will er jetzt bleiben. Da ist die Tafel wieder. Auf dem Tafelgrün stehen seine Ziffern. Genau richtig. Sieben, Drei. Er muss alle aufschreiben, sie dürfen nicht umfallen. Das Lied, das dieser Chor nun singt, das kennt er doch. Er spürt den Takt in seiner Wange, ist das ein Walzer, was ist das für ein Lied? Er kennt das. Die sollen ruhig singen, die Tiere, er kann trotzdem die Zahlen an die Tafel schreiben. Wie rot es ist hinter der Tafel! Die Sonne scheint. Er möchte nicht, dass sein Vater für ihn schreibt, das kann er schon selbst, auch wenn er kein Lehrer ist. Er muss das schaffen, bis die kleine Schwester kommt, damit sie Bescheid weiß.
    Mit der Fünf geht alles los. So fängt die Nummer an, mit der Fünf. Er sieht seinem Arm zu, wie der sich hebt, dann berührt er mit der Hand die Stelle an der Tafel, dort, vor der Sieben, dort muss die Fünf stehen, direkt davor. Sie müssen anrufen können. Die Fünf hat auch ein Dach über dem Bauch, das ist gut, das ist sicher. Er sieht der Ziffer zu, wie sie auf der Tafel entsteht, wie ein weißes Dach eine weiße Stütze bekommt, wie sich ein Bauch bildet, darunter, ein feiner runder Bauch. Da steht sie. Weiß auf grün. Fünfsiebendrei. Er kann das lesen.
    Wenn die Nummer fertig ist, dann kann man ihn auf die Nummer legen. Man kann ihn darauf zu ihr bringen. Aber jetzt geht das noch nicht. So noch nicht. Er mag die Acht gerne, alles, was symmetrisch ist, ist harmonisch, darüber müsste er mal nachdenken, in Ruhe, darüber wird er nachdenken. Die Acht ist ein Koloss. Die Acht ist immer
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