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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
Autoren: Sandra Hoffmann
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halbtoten Alten!
    Fünfsiebendreiachteins. Die Vorwahl ist auch klar.
    Wie oft er eine Zeit lang dort angerufen hat. Morgens. Vom Büro aus. Papiere vollgezeichnet mit Rauten und Ranken und Blüten mit dicken Kugelschreiberknospen, mit hartem Druck, so dass er noch drei Blätter weiter auf dem Block sehen konnte, wohin die Pflanzen gewachsen waren an diesem Tag. Hundskamille. Ferkelkraut! Um HANNAH herum, um sechs bis zur Unleserlichkeit verzierte Großbuchstaben herum, bis er den Hörer nahm und zitterte. Bis er den Hörer wieder ablegte und aufstand, ans Fenster ging, auf die Stadt hinabschaute, auf Menschenköpfe in Hüten, und ohne, und Paare, die sich an der Hand hielten, und Männer in Anzügen mit Männern in Anzügen, und Frauen mit Frauen.
    Filziges Herzgespann – Lippenblütengewächs. Wie die Taubnessel ungefähr. Hör auf damit! Sagt er zu sich selbst.
    Er ging zurück zum Schreibtisch und wählte die Nummer, die er im Schlaf aufsagen konnte, und wartete und atmete und hörte: Demuth. Und wie sie atmete, ruhig und gleichmäßig, wie Hannah atmete.
    Und schließlich fragte: Wer ist denn da?
    Und er fühlte sich wie ein ganz elendiger Idiot, wenn er auflegte. Und verstand die Macht dieses Geräts, für das es nicht einmal eine Schnur brauchte, um in dreihundert Kilometer Entfernung jemanden in Not zu bringen; um jemanden denken zu lassen, er werde gequält, er sei gemeint, obwohl es doch um etwas anderes ging. Aber ja, sie war ja gemeint. Morgens um zehn Uhr ist der Gatte bei der Arbeit, und die Kinder, gab es Kinder, wie oft er sich das fragte. Bestimmt gab es Kinder. Und die Kinder in der Schule. Und ja, sie war gemeint, Hannah. Die immer nur Demuth sagte, mit betontem D. Deemuth. So. Und manchmal rief er am nächsten Tag wieder an, und noch einmal am dritten, um dann monatelang nicht mehr daran zu denken, oder jedenfalls diesen alles besetzenden Drang nicht mehr zu spüren, und sich zurückfallen zu lassen ins eigene zufriedene Leben: Er hatte ja alles. Er hatte doch Pius. Und ersetzte der nicht, was er, Janek, mit seiner Tochter nicht erlebt hatte. Er hatte doch ein Kind. Pius war wie sein Kind. So hielt er sich die Verantwortung vom Leib. Und damit, dass er behauptete: Paula will nicht, dass ich mich melde. Aber immerhin war Paula sieben Jahre älter als er. Und tot. Es werden ja nicht alle Menschen achtzig. Siehe Agota. Er hätte es längst wissen können. Paula Bucherer ist tot. Ahmt er die kleine Schwester nach. Ich habe es eruieren können. Er hätte es vor zwei Jahren erfahren können, hätte er es eruieren wollen. Eruieren! Und Hannah, sie war doch nicht mehr das Mädchen, das er damals beobachtet hatte, als sie um Punkt fünf Uhr abends nach der Arbeit vom Tiermehlfabrikantensohn abgeholt wurde. Sie war doch erwachsen. Längst. Sie konnte doch für sich selbst entscheiden, mit wem sie zu tun haben wollte.
    Auf dem Foto, das ist Hannah. Sagt er zur kleinen Schwester. Er hat es in einer Zeitschrift gefunden, Jahre nachdem er sie in der Stadt gesehen hatte, sah er Hannah beim Friseur in so einem Heftchen. Fast sein halbes Leben lang trägt er nun diesen Papierschnipsel schon in seiner Brieftasche herum. Es ist Hannah. Es ist nicht Hannah.
    Sie macht eine ruppige Bewegung. So sieht sie bestimmt nicht mehr aus. Sagt die kleine Schwester.
    Immer wieder vergisst er das. Immer wieder glaubt er diesem vergilbten Stück Papier. Darauf ein Mädchen, wie in seiner Erinnerung.
    Der Papierfetzen ist doch jahrzehntealt. Fügt die kleine Schwester hinzu. Das sehen Sie doch auch!
    Er spürt, sie versteht ihn nicht. Konservierungsmethoden fallen ihm ein: Schockgefrieren, einwecken. In Formaldehyd einlegen.
    Sie findet einen kranken alten Mann vor. Sagt er.
    Ihre Tochter ist auch nicht mehr die Jüngste, sagt die kleine Schwester.
    Und was bleibt ihr dann? Kaum hat sie einen Vater, stirbt er ihr wieder weg.
    So weit muss es erst einmal kommen. Sagt die kleine Schwester.
    Sein Herz rennt. So sehr, dass er denkt, er hat das Herz im Magen, in den Knien, im Hals, im Kopf.
    Balsaminengewächs. Drüsiges Springkraut. Sumpf-Herzblatt. Er will etwas denken, aber es fallen ihm nur Pflanzennamen ein, und Wörter: Bastard, Hybrid, Rührmichnichtan. Schmächtiger Klee. Er muss lachen, dass sein ganzer Körper vibriert, weil er denkt, Schmächtiger Klee, das bin ich.
    Die kleine Schwester lacht nicht.
    Die Uhr tickt laut, sagt sie.
    Er weiß, dass um acht der Tagdienst kommt. Dann ist alles vorbei. Niemand weiß etwas über
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