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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
Autoren: Sandra Hoffmann
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sein Leben, wenn es hell wird. Aus dem Tagdienst erzählt er niemandem etwas. Er glaubt daran, dass er nachts stirbt. Wenn er es einrichten könnte, dann wäre das so. Er kann es versuchen. Dann hat er jetzt noch wenigstens einen Tag Aufschub. Vielleicht auch zehn, zwanzig, ein halbes Jahr. Einen aber sicher, wenn er nachts stirbt. Einen ganz sicher. Wenn es nach Naumann, seinem Arzt gegangen wäre, wäre er bereits tot. Kein viertel Jahr hat er ihm mehr gegeben. Das war schon vor einem halben Jahr gewesen.
    Er lacht immer noch, obwohl er das nicht möchte. Schmächtiger Klee, sagt er. Das bin ich.
    Eher ein Hahnenfuß. Sagt die kleine Schwester.
    Hasenfuß, sagt er.
    Sie nickt.
    Sie schweigen. Er hört der Uhr zu. – Ich kann die Nummer auswendig. Sagt er.
    Und?
    Ich kann Ihnen die Nummer diktieren.
    Sie wollen doch anrufen!
    Bitte! Sagt er. Bitte, fleht er.
    Sie kneift die dunklen Augen, die Hannah-Augen zusammen, jetzt geht sie weg, denkt er, und sieht: Sie steht auf.
    Er würde sie gerne festhalten, aber er fasst sie nicht an.
    Sie steht auf. Bleibt stehen.
    Er sieht ihr zu, wie sie das Haar öffnet, wie sie mit der linken Hand durch die dicken glatten Strähnen fährt, wie sie den Gummi wieder um den Pferdeschwanz windet, wie sie sich ein Mal im Kreis um sich selbst dreht und wieder setzt. Dann greift sie zum Hörer.
    Er drückt mit dem rechten Ellbogen seinen Körper empor, bis er den linken Arm dazu nehmen kann, dann stemmt er sich in die halbe Senkrechte. Das Telefon hat er nur wegen Pius. Damit ihn Pius erreichen kann, wann immer er möchte.
    Also? Fragt sie.
    Er spürt, wie sein Arm unter seinem Gewicht zittert, sein rechter Arm. Er möchte zusammenklappen, er möchte es nicht!
    Er sagt die Ziffern der Nummer auf, wiederholt sie noch einmal und hört das Klicken der Tasten. Plötzlich fällt ihm ein, dass es gerade erst halb acht Uhr morgens ist!
    Legen Sie auf, ruft er. Er möchte sich aufrichten, aufrecht setzen, aber es gelingt ihm nicht. Er stellt sich vor, wie der Fabrikantensohn zum Hörer greift, oder eines der Kinder, weil Anrufe morgens um diese Zeit immer Schicksalsanrufe sind, und deshalb immer wichtig.
    Legen Sie auf, sagt er nochmals.
    Aber die kleine Schwester schaut angespannt vor sich hin. Er hört das Freizeichen im Hörer, das Tuten.
    O Gott, sagt er. Ihm ist nicht gut. Sein Herz pocht laut, wie die Uhr, pocht in der Wange, im Ohr, pocht im Kopf.
    Demuth.
    Das lang gezogene Dee!
    Hannah Demuth? Fragt die kleine Schwester.
    Jaa?
    Er möchte aufspringen und aus der Tür rennen, er möchte wenigstens die Beine vom Bett baumeln lassen, aber er hat keine Kraft, alles Blut ist in seinen Kopf geschossen. Der fühlt sich heiß an. Er möchte wenigstens das Halsband von Izy aus der Schublade nehmen jetzt!
    Hier ist das St.-Anna-Hospiz. Sie sprechen mit Marita Trautwein.
    Es ist ganz still in der Leitung. Nichts. Als unterdrückte jemand jede Bewegung.
    Ich rufe im Auftrag Ihres Vaters an. Sagt die kleine Schwester, ihre Stimme vibriert. Er liegt bei uns und möchte Sie noch ein Mal sprechen.
    Ein Mal! Denkt Bili ń ski. Nur ein Mal! Hätte sie sagen müssen. Dann hört er der Stille zu. Er hält das nicht aus.
    Eins, sagt er leise.
    Die kleine Schwester schüttelt den Kopf.
    Er atmet ein. Er muss »zwei« sagen, er muss das tun. Er braucht einen Rhythmus. Er atmet ein, drei. Immer weiter. Leise, damit nichts passiert in seinem Kopf. Nichts passiert, wenn er zählt. Er sagt: sieben, und hört die Stimme im Apparat:
    Das kann nicht sein! Sagt die Stimme. Hannahs Stimme.
    Doch, möchte er rufen, ganz laut: DOCH! Aber er hört nur noch den vollkommen falschen Ton in der Leitung.
    Die kleine Schwester war noch geblieben, eine viertel Stunde, eine halbe Stunde, mehr. Sie haben still dagesessen, als könnte etwas passieren, das Telefon wenigstens ein Geräusch von sich geben; als könnte noch etwas nachkommen, etwas Gutes. Vielleicht auch aus Ratlosigkeit, Bili ń ski weiß es nicht, vielleicht, weil sie beieinanderbleiben mussten, um das auszuhalten, das Klicken in der Leitung.
    Ich muss gehen, hat Marita gesagt, da war es bereits nach acht Uhr gewesen, und der Tagdienst hat sie zur Übergabe erwartet. Bis heute Abend, hat sie gesagt.
    Lang ist der Tag. So lang, denkt Bili ń ski, weil er nicht schlafen kann. Er schaut das stille Telefon an. Immer wieder denkt er seit dem Morgen: Ich habe zu lange gewartet. Sie hat nicht mehr gewartet. Ich habe zu lange gewartet. Sie hat nicht mehr gewartet. Zwei
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