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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
Autoren: Sandra Hoffmann
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NEIN, SAGT BILI Ń SKI, ich möchte nicht schlafen.
    Es passiert nichts, antwortet die kleine Schwester.
    Er kennt ihre Stimme, wie eine, die ihn lange durchs Leben begleitet hat. So gut in den wenigen Monaten. Die Nuancen; den weichen Klang, wenn sie auf seiner Seite ist, wenn sie ihn zu beruhigen versucht, wenn er klagt, schimpft, sich wehrt. Die Unbekümmertheit, mit der sie ihn unterbricht, wie sie ihren Satz zu Ende bringen will, auch wenn er seinen zu Ende bringt: wie sie manchmal gemeinsam sprechen, gleichzeitig, bis er still wird, bis sie gewonnen hat. Die spitze Wut, wenn er sicher ist, zu wissen, so geht es, so machen wir das, und sie widerspricht, nein, das machen wir nicht so. Die Mädchenstimme, die Frauenstimme, die Krankenschwesternstimme, die Ich-weiß-Bescheid-Stimme. Eine Stimme wie die einer Geliebten. Nein, das würde er so nicht sagen.
    Die Augen geschlossen, sagt er: Bleiben Sie!
    Er hört, wie sie den Stuhl heranzieht, sich setzt, ihren Atem; kein feiner Wind, nur stellt er sich die Bewegung ihrer schmalen Nasenflügel vor. Manchmal will er die Augen nicht öffnen beim Erzählen.
    Mili, sagt er, das war ein Glück, dass sie so jung war.
    Die kleine Schwester schweigt.
    Sie könnte auch nachfragen, denkt er, obwohl es doch genug ist, dass sie da sitzt, ihm zuhört, immer wieder und weiter, seit Wochen. Er ist ungerecht, ja, und doch kann er plötzlich nicht an sich halten. Etwas überrennt ihn.
    Sie haben das Fragen wohl nie gelernt, sagt er.
    Warum? Ihre Stimme klingt verwundert.
    Lehrerhaft muss das wirken, wenn er sagt: Das ist die richtige Frage! Aber es hilft nichts, er sagt es und antwortet ihr: Weil sie damals alle Jahrgänge zwischen neunzehnhundertsechzehn und vierundzwanzig rausgeholt haben, per Zwang, alle. Und Mili ist ein sechsundzwanziger Jahrgang. Sie war vierzehn.
    Das Bild rückt näher, und als es ganz nahe ist, spürt er auch das altbekannte Ziehen in der Magengegend; er lebt noch, manches vergeht nicht. Mili, wie sie zusammengekrümmt dalag, nachdem er Izy hatte töten müssen, wie er noch Izy vor Augen hatte, ihr raues starkes Fell, die Augen, die dunklen Hundeaugen ihn hoffnungsvoll anschauten, und Izys so starken Körper, der sich immer wieder aufrichten wollte, aber sie hatten ihr das Rückgrat gebrochen. Und wie er ins Haus trat und Mili im Sessel, rotäugig, düster, verängstigt, und aufs Merkwürdigste abgerissen aussah. Mili? Hatte er gesagt, und sie war fast im Sessel verschwunden. Lass mal, hatte die Mutter gesagt. Sie roch schlecht, sauer und stockfleckig.
    Warum, fragt die kleine Schwester noch einmal, warum meinen Sie, ich habe das Fragen nie gelernt?
    Er zuckt zusammen. Das Bild von Mili und der Mutter im halbdunklen Zimmer verschwindet.
    Warum meinen Sie das?, beharrt die kleine Schwester.
    Was?, fragt er. Sie sitzt direkt an seinem Bett, das Haar zum Pferdeschwanz gebunden, wie immer, die Augen rund und weit offen unter den dichten buschigen Brauen, sie sind es, denkt er, die ihn erinnern.
    Warum meinen Sie, dass ich das Fragen nie gelernt habe? Fragt sie. Sie drängt, sie wird nicht nachlassen, jetzt.
    Sonst würden Sie doch fragen: Was ist Mili passiert? Warum war es ein Glück? So etwas fragt man doch.
    Marita zuckt mit den Schultern.
    Er denkt jetzt manchmal gar nicht mehr freundlich über die Menschen.
    Sie haben, sagt Bili ń ski, weil die Männer im Krieg waren, weil sie dringend Arbeitskräfte brauchten, alle, die im besten Alter waren, herausgeholt aus Polen, damit sie in den Fabriken, auf dem Land, ach, Herrgott, überall arbeiteten. Sie brauchten Leute, genauer Sklaven, gesunde Sklaven.
    Aber warum haben Sie sich nicht gewehrt? Sie und alle? Ich hätte mich gewehrt, sagt die kleine Schwester empört.
    Weil das nichts genutzt hat. Weil wir keine Stimme hatten, keine Chance, weil meist nicht einmal Verstecken half, oder vielleicht ein einziges Mal, und beim nächsten Mal hatten sie dich. Wenn du Glück hattest, schafftest du es auch noch ein zweites Mal, aber irgendwann bist du auf dem Weg in die Stadt, und absichtlich, wohlüberlegt nimmst du eine kleine unbekannte Nebenstraße, und dann machen sie eine Razzia. Bili ń ski sieht die kleine Kolonne aus drei Wagen vor sich, als habe er sie gestern kommen sehen, er war nahe dem Wald von Zagorzy, da hörte er die Motorgeräusche aus der Ferne, er kannte sich aus mit Geräuschen von Motoren und das waren zweifellos ihre. Da springt er in den Graben, die große Dorne einer ausgewilderten Brombeere reißt
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