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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt
Autoren: John Lanchester
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eines Europäers liegt.
    Und dann gewannen die Guten; der Schönheitswettbewerb war zu Ende und damit auch der jahrzehntelange Fortschritt, den die westliche Welt auf dem Gebiet der Chancengleichheit und der Persönlichkeitsrechte zu verzeichnen hatte. In den USA blieb das Arbeitnehmergehalt im mittleren Einkommensbereich − dem Bereich,der genau in der Mitte der Verdienstkurve liegt – seit 1970 mehr oder minder unverändert.Aber der Graben zwischen niedrigen und hohen Einkommen hat sich drastisch vertieft. Seit 1970 ist das Gehalt des meistverdienenden Fünftels der US-amerikanischen Arbeitnehmer um60 Prozent gestiegen, während alle anderen 10 Prozent weniger erhalten. 3 In den siebziger Jahren war die Zahl der Arbeitsstunden pro Jahr für Amerikaner und Europer ungefähr gleich; heute arbeiten die Amerikaner fast doppelt so viel. 4 Aber das gilt nur für die Menschen im mittleren Einkommensbereich. Für die Spitzenverdiener, insbesondere die am obersten Ende der Verdienstskala, sieht das anders aus: Zwischen 1980 und 2007 ist das Einkommen der reichsten 0,1 Prozent der Amerikaner um 700 Prozent gestiegen. 5
    Betrachten wir die Veränderungen seit dem Fall der Berliner Mauer doch einmal von einer etwas anderen Warte. Zu den auffälligsten Konsequenzen gehört die Abschaffung des Folterverbots, das bis dahin ein wesentlicher Bestandteil westlich demokratischen Selbstverständnisses war. Wenn der Westen früher etwas moralisch Verwerfliches tat, dann leugnete man das konsequent oder tat es im Verborgenen oder ließ es andere für sich tun. Korrupte Regime, die mit dem Westen verbündet waren, mochten Verbrechen wie Folter und Inhaftierung ohne Gerichtsverhandlung begehen, aber wenn diese Verbrechen dann ans Licht kamen, unternahmen die fraglichen Regierungen alles, um die Beschuldigungen zurückzuweisen oder zu vertuschen – denn man schämte sich dieser Verbrechen. Nach Beendigung des ideologischen Schönheitswettbewerbs änderte sich das gründlich. Man denke nur an das Thema Waterboarding. Während der Nürnberger Prozesse galt es als schweres strafrechtliches Vergehen: Der japanische Offizier Yukio Osano wurde zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weil er bei einem amerikanischen Zivilisten Waterboarding angewandt hatte. Während des Vietnamkrieges benutzten die US-Streitkräfte diese Foltermethode gelegentlich – aber als sie dabei erwischt wurden, gab es einen Riesenskandal. Im Januar 1968 veröffentlichte die Washington Post das Foto eines amerikanisbres americhen Soldaten, wie er einen nordvietnamesischenGefangenen dem Waterboarding unterzog. Es herrschte große Empörung und der Soldat wurde vors Kriegsgericht gestellt. Nach dem Ende des Kalten Krieges und mit dem Beginn des »Kriegs gegen den Terror« wurde das Waterboarding zu einem explizit gebilligten Instrument der US-amerikanischen (und infolgedessen auch der britischen) Geheimdienste. Als es der westlich-demokratischen Welt noch darum ging, den kommunistischen Ländern die eigene moralische Überlegenheit vor Augen zu führen, wäre es nie dazu gekommen.
    Das Gleiche gilt für die Art, wie man den Finanzsektor außer Kontrolle geraten ließ. Die Ereignisse, die dazu führten, vollzogen sich nicht in einem Vakuum, sondern in einem ganz bestimmten Klima. Dieses Klima ergab sich aus dem unangefochtenen Sieg des kapitalistischen Systems. Es entstand eine ideologische Hegemonie, wie es sie bis dahin noch nie gegeben hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte war die Dominanz des Kapitalismus als politisch-ökonomisches System vollkommen ungefährdet. Unter diesen Umständen hätte man sich leicht denken können, dass der Finanzsektor, der beim Betrieb des Kapitalismus sozusagen den Vorsitz führt, anfangen würde, sich selbst mit einem unverhältnismäßig großen Stück des wirtschaftlichen Kuchens zu belohnen. Es gab keinen globalen Gegenspieler mehr, der mit dem Finger auf das System hätte zeigen und sich höhnisch darüber hätte echauffieren können, wie zahlreich und hemmungslos die überbezahlten Manager und Bonzen geworden waren. Es war niemandem mehr peinlich, dass die Reichen ganz ungehindert immer schneller immer reicher wurden. Der Finanzsektor war nun in der Hand des Kapitalismus, und die Menschen, die darin tätig waren, begannen, riesige Privatvermögen anzuhäufen, und das allein indem sie ihre Arbeit taten. Im Falle der Banker bestand diese Arbeit im Eingehen von Risiken, für gewöhnlich mit dem geliehenen Geld anderer Leute. Um mehr
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