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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt
Autoren: John Lanchester
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Kreditkartenanträgen. Sooft ich meine eigene Bank, Barclays, anrief, kam – noch bevor man mir die Wahl gab, auf meine Kontodaten zuzugreifen oder mit einem Mitarbeiter zu sprechen – eine Stimme vom Band, die mir das Angebot machte, einen Kredit aufzunehmen. Kreditnehmer wurden ermutigt, sich mit billigen Krediten geradezu vollzustopfen, als seien sie Gänse, die man zur Herstellung von Foie gras mästet. »Ich habe ja versucht, vorsichtig zu sein«, erzählte mir ein Freund, »aber mein Finanzberater sagte mir, es ist genauso, wie wenn die Straße ganz frei vor einem liegt,dann wäre man doch schön blöd, wenn man nicht Gas geben würde. Also habe ich Gas gegeben.« Er und Millionen andere.
    Für eine Weile schien sich in Island ein modernes Wirtschaftswunder zu ereignen. Aber dann brach die Realität über das Land herein und die isländische Wirtschaft ging auf ähnliche Weise bankrott wie Mike Campbell in Hemingways Roman Fiesta : »auf zwei Arten, erst allmählich und dann plötzlich«. Die langsame Kursverschlechterung der Krone Anfang 2008 wurde noch dadurch verschärft, dass so viele Isländer Hypotheken in ausländischen Währungen aufgenommen hatten: Genauer gesagt waren es 40 500 Isländer mit Hypotheken im Wert von insgesamt 115 Milliarden Kronen, was ungefähr 38 000 Euro pro Kopf entspricht. (Ein Großteil dieses Geldes scheint für teure Autos ausgegeben worden zu sein.) 40 000 Personen ist ziemlich viel in einem Land mit einer Bevölkerung von gerade mal 300 000. Der Wertverfall der Krone trafusländischen Vermögenswerte der Banken wurden eingefroren. Esbegann damit, dass die britische Regierung das Abziehen des Geldes isländischer Banken dadurch verhinderte, dass sie das Antiterrorgesetz in Kraft setzte. Die Isländer sind heute noch wütend darüber: In Reykjavík habe ich ein T-Shirt mit dem Bild des Premierministers Gordon Brown gesehen, unter dem der Slogan stand: »Brown ist die Farbe von Scheiße«. Das ist vielleicht etwas hart. Aber die Leute haben durchaus das Recht, auf jemanden wütend zu sein. Wegen der Implosion der isländischen Banken mussten jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Island einen Verlust von 150 000 Euro verkraften.
    ***
    Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte sich unsere Wirtschaft von einem System, in dem Banken und Kredite ganz normal funktionierten, in das verwandeln, was wir jetzt vor Augen haben, der »Reykjavíkisation« der Weltwirtschaft? Wie ich noch ausführen werde, sind für diese Krise ein ganz spezifisches Problem, ein Fehler, das Versagen bestimmter Instanzen und Personen und ein ganz besonderer kultureller Hintergrund verantwortlich. Aber bevor irgendetwas davon Wirkung zeigte, entwickelte sich die Krise aus einem bestimmten Klima – dem Klima nämlich, das entstand, nachdem der Kapitalismus über den Kommunismus gesiegt hatte und die Berliner Mauer gefallen war.
    Ich konnte das deshalb besonders gut erkennen, weil ich in Hongkong aufgewachsen war. Dort herrschte damals eine Form der Marktwirtschaft, wie sie freier und ungezügelter nirgendwo sonst auf der Welt existierte. Hongkong war der wirtschaftliche Wilde Westen. Es gab keine Regeln, keine Steuern (obwohl man irgendwann doch einen Höchststeuersatz von 15 Prozent einführte), keinen Wohlfahrtsstaat, keinerlei Garantie für medizinische Betreuung oder Schulausbildung. Ausbeuterbetriebe, die von niemandem kontrolliert wurden, spielten beim wirtschaftlichen Erfolg der Kolonie eine wichtige Rolle. Das hässliche Gesicht eines Kapitalismus, der keinerlei Regeln folgt, zeigte sich überall. Aber gleichzeitig konnte manauch überall beobachten, wie viel Wachstum und Reichtum diese Art von Kapitalismus schuf – und es war genauso wenig zu übersehen, dass die Leute bereit waren, für dieses System mit seinen Grundsätzen »Den-Letzten-beißen-die-Hunde« und »Jeder-gegen-jeden« ihr Leben zu riskieren. Flüchtlinge aus dem kommunistischen China schwammen, krochen und schmuggelten sich auf allen nur denkbaren Wegen nach Hongkong, und immer wieder kamen viele dabei ums Leben. Falls sie es über die Grenze schafften, gab es die Regel, dass sie zurückgeschickt wurden, sobald man sie aufgriff, es sei denn, sie erreichten die Boundary Street in Kowloon. Hatten sie das geschafft, durften sie bleiben. Diese Regeltli Diese hatte etwas schrecklich Plastisches, wie die Erwachsenenversion eines Kinderspiels: Du brauchst es nur bis ins »Freio« zu schaffen und du bist in Sicherheit. Aber wenn nicht,
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