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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt
Autoren: John Lanchester
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Emotionalität und Dramatik, und ihre Verzweigungen mit mathematischen, ökonomischen und psychologischen Themen sind entscheidend für die Ereignisse der letzten Jahrzehnte. Und aus irgendwelchen mysteriösen Gründen sind diese Zusammenhänge der allgemeinen Öffentlichkeit vollkommen unbekannt.
    Man spricht gern von den »Zwei Kulturen«, den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften. Gerade im Jahr 2009 tauchte das Thema immer wieder auf, denn da war es genau 50 Jahre her, dass C. P. Snow diese Wendung zum ersten Mal in einer Rede benutzte. Dabei bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob die Anschauung, es gebe einen tiefen Graben zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, immer noch genauso zutrifft wie vor einem halben Jahrhundert. Ein ganz normaler Leser, der sich über naturwissenschaftliche Grundsätze kundig machen will, kann dies heutzutage leichter tun als jemals zuvor. Ich denke vielmehr, dass der Graben, der die Welt der Finanzen von der Welt der restlichen Bevölkerungtrennt, wesentlich größer ist. Und dieser Graben muss dringend überbrückt werden, wenn wir die Angehörigen der Finanzindustrie nicht weiterhin als eine Art Priesterschaft sehen wollen, die ihre ganz persönlichen Mysterien pflegt, die wir Übrigen ebenso fürchten wie verurteilen. Zahllose intelligente, belesene Menschen haben nicht die geringste Ahnung von den simpelsten ökonomischen Grundlagen, die jedoch für die Insider der Finanzbranche notwendig zum Verständnis der Welt dazugehören. Ich selbst bin, was die Welt der Finanzen und Ökonomie angeht, ein Außenseiter und hoffe daher, dass ich bei der Überbrückung dieses Grabens ein wenig behilflich sein kann.
    Sehr viele Menschen haben das Bedürfnis zu verstehen, was eigentlich vorgefallen ist. Und es fällt schwer zu akzeptieren, dass uns in einem so dramatischen wirtschaftlichen Abschwung und angesichts einer so umfassenden Krise die Kontrolle über einen wesentlichen Aspekt unseres Lebens abhanden gekommen ist. In seiner derzeitigen Form stellt das Finanzsystem eine größere Bedrohung für die westlichen Demokratien dar, als es der Terrorismus je sein könnte. Keine demokratische Regierung ist je von einer terroristischen Bedrohung destabilisiert worden. Wenn aber die Geldautomaten kein Geld mehr ausspucken, hat das so weitreichende Folgen, dass es die heutigen Staaten mit demokratischer Verfassung an den Rand des Zusammenbruchs führen kann. Trotzdem verhalten sich die Regierungen so, als könnten sie kaum etwas dagegen unternehmen. Sie haben die gesetzliche Befugnis, uns zum Wehrdienst einzuberufen und uns in den Krieg zu schicken, sehen sich aber außerstande, wesentliche Elemente des Wirtschaftssystems zu reformieren.
    Der Versuch zu verstehen, was passiert ist, könnte uns ein gewisses Maß an Kontrolle zurückgeben. Wir hätten das Gefühl, wenigstens irgendetwas zu unternehmen. Ich will die Sache genauso verstehen wie meine Leser, wer auch immer sie sein mögen. Welch eine erstaunliche Ironie: Nach Jahrzehnten, in denen die Ideologie der westlichen Welt sowohl persönlichals auch ökonomisch von einem großen Individualismus geprägt war, sind wir plötzlich in eine Krise geraten, die uns in aller Deutlichkeit klarmacht, dass wir, ob wir es nun wollen oder nicht – und man müsste schon verrückt sein, wenn man diese Entwicklung in Bausch un, in Baund Bogen begrüßen würde –, alle im selben Boot sitzen. Die Nachwirkungen dieser Krise werden unsere Gesellschaft während der nächsten zehn Jahre und womöglich noch länger politisch und ökonomisch beherrschen. Wir sollten unbedingt versuchen, die Krise zu verstehen, und anfangen, darüber nachzudenken, was als Nächstes kommt.



1. Kapitel
Eine Erkenntnis am Geldautomaten
    Als Kind hatte ich Angst vor Geldautomaten. Genauer gesagt jagte mir gleich der erste Geldautomat, den ich zu Gesicht bekam, höllische Angst ein. Er befand sich draußen vor der imposanten Zentrale der Hongkong and Shanghai Bank an der Queen’s Road Central Nummer 1 in Hongkong. Es muss etwa im Jahr 1970 gewesen sein, als ich gerade acht Jahre alt war. Mein Vater war bei der Bank angestellt und gehörte deshalb auch zu den Ersten, die überhaupt einen Bankautomaten benutzten. Der Automat war direkt neben den berühmten bronzenen Löwen des Gebäudes angebracht, und jedes Mal wenn ich ihn sah, geriet ich in Panik. Wenn sich nun der Automat verrechnete und uns das ganze Geld stahl? Wenn er aus Versehen das Geld einer anderen Person
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