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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt
Autoren: John Lanchester
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nicht etwa deswegen nicht, weil sie kein Geld mehr hatte – es war die Bank, die kein Geld mehr hatte. Und das hieß nicht nur, dass die Bank gerade über keine ausreichenden finanziellen Mittel verfügte, nein, es war ein wahrhaftiges Weltuntergangsszenario: Ihre Karte funktionierte nicht, weil dem ganzen Staat Island das Geld ausgegangen war. Am 6. Oktober 2008 schloss die Regierung die Banken und fror jeglichen ausländischen Zahlungsverkehr ein. Island stand kurz vor einem Staatsbankrott. Als Rakels Überweisung für ihre Studiengebühren einen Tag später getätigt wurde, war die isländische Króna dramatisch eingebrochen und der Betrag, den sie überweisen musste, hatte sich um 40 Prozent erhöht. Es dauerte drei Wochen, bis Rakel endlichwieder Zugriff auf ihr Konto hatte, und in der Zwischenzeit war klargeworden, dass sie sich das Studium nicht mehr leisten konnte. Mittlerweile ist sie wieder daheim in Reykjavík, ist arbeitslos und musste ihre gesamten Zukunftspläne aufgeben. »Was mich an unserer früheren Regierung am meisten aufregt«, sagt sie nun, »ist, dass diese Leute noch nicht mal den Anstand hatten, sich zu schämen.«
    So kann es gehen, wenn die Banken eines Landes zusammenbrechen. Manche Einzelheiten im Fall Island sind sehr ungewöhnlich: Im Grunde genommen hatte eine kleine Gruppe von reichen und mächtigen Leuten ihre Vermögenswerte untereinander hin und her verkauft und dadurch eine groteske Blase künstlichen Reichtums geschaffen. »Das waren 30 oder 40 Leute, und jetzt muss das ganze Land dafür bezahlen«, sagte ein Taxifahrer in Reykjavík einmal zu mir – und mir ist bisher noch kein Isländer begegnet, der nicht derselben Meinung wäre. Aber auch wenn es nur ein kleiner Kreis war, der letztendlich diese Blase zu verantworten hatte, ließ sich doch auch das ganze Land mitreißen. Damals hievte eine riesige Welle von billigen Krediten ganz Island in eine Art ökonomisches Fantasyland. Und im Zentrum dieser Entwicklung standen die Banken. Bevor die wirtschaftlich liberal So ich libeingestellte Unabhängigkeitspartei die isländischen Banken 2001 privatisierte, hatten sich diese in staatlicher Hand befunden. Das Resultat war ein explosionsartiges Wachstum – künstlich zwar, aber explosionsartig. Ein Land mit 300 000 Bewohnern – das entspricht gerade mal der Bevölkerung von Brighton – und keinerlei Rohstoffquellen, abgesehen von Thermalenergie und Fischbestand, legte sich ganz plötzlich einen riesigen Bankensektor zu, dessen Vermögenswerte die übrige Wirtschaft um das 12-Fache überstiegen. Ihr Münzgeld hätte den Isländern eigentlich eine Warnung sein sollen, denn es sind lauter Meerestiere darauf abgebildet: Auf der 50-Cent-Münze ist eine Krabbe zu sehen, auf der 1-Kronen-Münze ein Lachs, auf der 10-Kronen-Münze prangt ein Loddenschwarm und auf der 100-Kronen-Münze eine Scholle. Wenn man sich die Münzen durch die Fingergleiten lässt, denkt man: Diese Leute wissen sehr viel über Fisch, aber vielleicht nicht ganz so viel über das Bankwesen.
    Aber niemand widmete dem Ganzen besonders viel Aufmerksamkeit. Kredite waren so günstig, dass es einem vorkam, als bekäme man sie geschenkt. In einem Gespräch mit dem Steinmetz Valgardur - Bragason erzählte dieser mir, er habe damals zwei Häuser und ein Grundstück gekauft und dafür drei verschiedene Hypotheken über eine Gesamtsumme von umgerechnet etwa 760 000 Euro aufgenommen. Seine diesbezüglichen Verhandlungen mit den Bankangestellten dauerten nie länger als 15 Minuten. Eine der Hypotheken wurde nicht in isländischen Kronen denominiert, weil diese einen recht hohen Zinssatz hatten, sondern in einem Korb von fünf verschiedenen ausländischen Währungen. Bragasons Methode mag vielleicht verrückt klingen – aber die herkömmlichen Regeln, was privates Finanzgebaren betrifft, waren während der ersten Jahre des neuen Jahrtausends außer Kraft gesetzt, und das nicht nur in Island. Es stimmt zwar, dass auf dieser Insel wie auch andernorts viele Verbraucher und Kreditnehmer vollkommen unverantwortlich handelten; andererseits wurden sie dazu auch ermutigt. In der gesamten wirtschaftsliberalen Welt behandelten die Banken jegliche finanzielle Verantwortungslosigkeit wie ein wertvolles Handelsgut, fast so, als sei sie eine Art Rohstoffquelle, die man liebevoll hegen und pflegen muss. Billige Kredite gab es überall: Man bekam fast täglich Werbeanrufe von Kreditinstituten oder Briefe mit schon fertig ausgefüllten
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