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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt
Autoren: John Lanchester
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dann ab mit dir, zurück in die Tyrannei. Doch es bestand kein Zweifel daran, dass Hongkong all jenen Menschen, die versuchten, dorthin zu gelangen, als ein strahlender Ort der Hoffnung und der unendlichen Möglichkeiten erschien. Und dabei war es gar nicht so sehr der Ort, den sie zu erreichen suchten, sondern vielmehr das dort herrschende System. Das Land und die Leute waren die gleichen; nur das System war anders. Ein System muss also etwas sein, das eine ungeheure Macht ausüben kann. Das konnte sogar ein Kind erkennen. Hauptsächlich war es daran abzulesen, mit welcher Geschwindigkeit sich alles veränderte. Es geschah regelmäßig, dass man um eine Ecke bog und plötzlich einen Schreck bekam, weil man nicht mehr wusste, wo zum Teufel man sich befand, weil irgendein wichtiger Orientierungspunkt verschwunden war. Und was das kommunistische China anging, so war es bis zu dem Zeitpunkt, als es 1979 seine Grenzen für gewöhnliche Touristen öffnete, gefürchtet, bestaunt und von allerlei Legenden umrankt. Wenn man Besuch hatte, ging man mit ihm immer bis zum äußersten Punkt der New Territories, denn von dort aus konnte man nach China hinüberschauen. Auf der Hongkong-Seite gab es einen Hügel mit einem Beobachtungsposten, der von Gurkha-Soldaten besetztwar. Man schaute auf Reisfelder und auf einen Fluss. Das war so ungefähr alles, was es dort zu sehen gab. Wenn man sich heute an denselben Ort stellt, schaut man auf Shenzhen, die am schnellsten wachsende Stadt Chinas, mit einer Bevölkerung von 9 Millionen Menschen. Noch vor 30 Jahren gab es dort buchstäblich kein einziges Gebäude.
    Damals wirkte Hongkong wie ein Experiment, ein Labortest in freimarktwirtschaftlichem Kapitalismus. Geschichtliche und demographische Umstände hatten sich miteinander verschworen, um hier eine in der Welt einzigartige Situation zu schaffen. Besonders Großbritannien wirkte im Gegensatz dazu wesentlich langsamer, vorsichtiger, geregelter und viel ängstlicher, sobald es um Veränderungen ging. Aber in den drei Jahrzehnten, die vergingen, nachdem ich Hongkong verlassen hatte, schien es mir, als gäbe es eine Art umgekehrte Machtübernahme. Es sah so aus, als würden die Regeln, die ursprünglich nur für Hongkong gegolten hatten, nun plötzlich auch die ganze übrige Welt erobern. Statt ein Sonderfall zu bleiben, wurde diese ungezähmte und unregulierte Version des freien Marktes zum neuen Normalfall. Und es waren nicht irgendwelche überzeugenden Argumente, die dieser Form des Kapitalismus zum Sieg verhalfen, sondern schiere Gewalt: Die Länder, die sich den dazugehörigen Regeln verschrieben, hatten ein wesentlich stärkeres Wirtschaftswachstum vorzuweisen als andere, die es nicht taten. Subjektive Veränderungen in der Beschaffenheit menschlicher Erfahrungen kann man zwar nicht messen, aber was man sehr wohl messen kann, ist der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts. Während in den Vereinigten Staaten Ronald Reagan und in Großbritannien Margaret Thatcher an der Macht waren, breitete sich die Hongkong-Version der kapitalistischen freien Marktwirtschaft unangefochten in der ganzen Welt aus. Ich konnte nicht wieder heimkehren, aber das war auch gar nicht schlimm, denn meine Heimat kam gewissermaßen zu mir.
    Diese Version des Kapitalismus, die sich so gründlich in der Welt durchsetzte, hatte ihre ideologischen Wurzeln in denSchriften von Adam Smith, Friedrich Hayek und Milton Friedman und tat so, als gäbe es eine grundsätzliche Verbindung zwischen Kapitalismus und Demokratie. Die nachfolgenden Ereignisse haben meiner Ansicht nach bewiesen, dass das nicht zutrifft – aber das ist eine vollkommen andere Debatte und würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Es mag also genügen, festzustellen, dass diese Version des Kapitalismus, die oft auch als das angelsächsischengelsäche Modell bezeichnet wird, in der gesamten Welt um sich griff. 2 Teil des Schemas waren die Liberalisierung der Märkte, die Deregulierung der Wirtschaft und insbesondere des Finanzsektors, die Privatisierung staatlichen Eigentums, niedrige Steuern und so niedrig wie möglich gehaltene Staatsausgaben. Die Rolle des Staates sollte sich darauf beschränken, den vermögensbildenden Individuen und Unternehmen nur ja nicht in die Quere zu kommen. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien waren die Cheerleader beim Umsetzen dieser Richtlinien, und ihr Erfolg bei der Steigerung ihres Bruttoinlandsprodukts führte dazu, dass sie in etwas abgewandelter Form auch in
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