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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin
Autoren: Viktor Jerofejew
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    Schließlich habe ich meinen Vater ermordet. Der einsame goldene Zeiger auf dem blauen Zifferblatt am Turm der Moskauer Universität auf den Leninhügeln stand auf minus vierzig Grad Celsius. Die Autos sprangen nicht an, die Vögel trauten sich nicht zu fliegen. Die Stadt war erstarrt wie Sülze mit menschlicher Füllung. Als ich morgens im Badezimmer in den ovalen Spiegel sah, entdeckte ich, dass die Haare an meinen Schläfen über Nacht grau geworden waren. Ich war zweiunddreißig Jahre alt. Es war der kälteste Januar meines Lebens.
    Mein Vater lebt indes bis zum heutigen Tag und hat sogar bis vor kurzem Tennis gespielt. Obwohl in die Jahre gekommen, mäht er auf der Datscha mit einem elektrischen Rasenmäher noch selbst das Gras zwischen Hortensien, Rosen und seinen geliebten Stachelbeersträuchern. Er fährt noch immer starrsinnig ohne Brille Auto, womit er Mutter zur Verzweiflung treibt und sämtliche Fußgänger in Angst und Schrecken versetzt. Wenn er sich auf der Datscha in sein Arbeitszimmer im ersten Stock zurückzieht, wo die Zweige einer hohen Eiche am Fenster schaben, tippt er lange und zögernd, sich das energische Kinn reibend, irgendetwas auf der Schreibmaschine (schreibt er vielleicht an seinen Memoiren?), aber das sind bereits Details. Ich habe keinen physischen, sondern einen politischen Mord begangen – nach den Gesetzen meines Landes war das ein echter Tod.
    *
    Kann man seine Eltern als Menschen betrachten? Ich habe das immer bezweifelt. Eltern sind nicht entwickelte Negative. Von allen Menschen, denen wir im Leben begegnen, kennen wir unsere Eltern am wenigsten, eben weil wir ihnen nicht begegnen, die Initiative liegt von vornherein bei unseren »Vorfahren«: Sie sind es, die uns begegnen. Die Nabelschnur ist nicht durchschnitten – wir bestehen exakt in dem Maße aus ihnen, in dem wir sie nicht verstehen können. Der Wissenskollaps ist garantiert. Alles Übrige sind Vermutungen. Wir haben Angst, ihre Körper zu sehen und ihnen in die Seele zu blicken. Sie wollen sich für uns einfach nicht in normale Menschen verwandeln und bleiben für immer eine Abfolge von Eindrücken nicht eindeutiger Herkunft, flüchtige Trugbilder, Vogelscheuchen gleich.
    Es sind unantastbare Wesen. Unsere Urteile über sie sind hilflos, aus den Fingern gesogen, auf Voreingenommenheit aufgebaut, auf nicht ausgelebten kindlichen Ängsten, dem Kampf zwischen Vollkommenheit und Realität, der Rechtfertigung des nicht zu Rechtfertigenden. Aber auch die Eltern sind hilflos vor unserem Urteil. Unsere beiderseitige Liebe gehört weder ihnen noch uns, sondern einem Instinkt, der sich wie im Schoß der Mutter auch im Schoß der Zivilisation verirrt hat. In diesem Instinkt suchen wir energisch eine positive menschliche Grundlage, und wir können nicht anders, als ihm seine Blindheit mit unseren tiefsinnigen Spekulationen heimzuzahlen. Die Liebe mit dem Namen »Väter und Söhne« hat keinen gemeinsamen Nenner der Dankbarkeit, sie ist voller Kränkungen und Missverständnisse, aus denen dann die Bitterkeit des späten Bedauerns erwächst.
    Die Eltern sind der Puffer zwischen uns und dem Tod. Wie große Künstler haben sie kein Recht auf das Alter, und unsere unausweichliche Revolte gegen sie ist ebenso biologisch untadelig wie moralisch verwerflich. Die Eltern sind das Intimste, was wir besitzen. Aber wenn sich die Intimität in der Familie zu einem Skandal internationalen Ausmaßes ausweitet, der sie an den Rand der Überlebensfähigkeit treibt, wie es in meiner Familie geschehen ist, dann beginnt man unwillkürlich nachzudenken, sich zu erinnern und zu analysieren. Erst jetzt habe ich mich endlich entschlossen, darüber ein Buch zu schreiben.
    *
    Anonymer Brief
    An den Minister für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR , Gen. A. A. Gromyko
    Kopie: Österreich. Wien. Vertretung der UdSSR bei der UNO . Botschafter W. I. Jerofejew
    Per Luftpost, Abbildung auf dem Umschlag: drei Piloten, Helden der Sowjetunion: P. Ossipenko, V. Grisodubowa, M. Raskowa. 40 Jahre Direktflug »Moskau – Ferner Osten«. Poststempel: 31 - 1791840 (abgeschickt am 31 . Januar 1979 um 18 . 40 Uhr). Postamt Moskau, Abfertigung 9 .
    Zweite Kopie (an mich): Moskau. Gorki-Straße 27 / 29 , Whg. 30 . V. Jerofejew
    Per Luftpost, Abbildung auf dem Umschlag: Baikal-Robbe. Aus der Serie »Tiere der Gegenwart in der Fauna der UdSSR «. Poststempel 31 - 1791840 , Postamt Moskau, Abfertigung 9 .
    Name und Anschrift des Absenders auf dem Umschlag sind falsch.
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