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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin
Autoren: Viktor Jerofejew
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Orthographie und Interpunktion des anonymen Autors wurden unverändert übernommen.
    Sehr geehrter Genosse Minister!
    Es scheint, dass aus dem lokalen Skandal, der jetzt im Bereich der Literatur vor sich geht, auch einige andere Institutionen, die mit dem Kampf der beiden sozialen Systeme zu tun haben, ihre Schlüsse ziehen müssen. Insbesondere das Außenministerium.
    Man denke nur: In der Familie eines Diplomaten, der zutiefst einer der »Unsrigen« ist und einen tadellosen ideologischen Ruf besitzt, ist echter Abschaum groß geworden, einer, der unzüchtige sexualpathologische Geschichten schreibt und sich nun als Herausgeber und einer der Autoren eines Untergrund-Almanachs hervortut, welcher eindeutig antisowjetisch ausgerichtet ist. Die Geschichte von Viktor Jerofejew, deren Handlung in einer öffentlichen Toilette spielt, unter der unsere Gesellschaft zu verstehen ist, ist überhaupt ein unerhörter Präzedenzfall!
    (…) Ist es, solange in den literarischen Kreisen die Untersuchung läuft, wie ein junger Mann, der nicht ein einziges eigenes Buch vorzuweisen hat, Mitglied des Schriftstellerverbands werden konnte, nicht überlegenswert, dass er diese seine merkwürdigen Ideen im Ausland aufgeschnappt hat, wo er gelebt hat und auch jetzt sich oft aufhält infolge der Dienststellung seiner Eltern? Wir glauben nicht, dass er direkt angeworben wurde, aber eines ist beinahe zweifelsfrei: die feindliche Ideologie hat sich auf direktem Wege in seinem Kopf festgesetzt!
    (…) Es wird jetzt viel darüber geredet, dass die elterlichen Beziehungen diesem Klassen-Renegaten helfen werden, sich aus der Geschichte herauszuwinden, in der er sich bislang äußerst frech und ohne Anzeichen irgendwie gearteter Reue benimmt. Es wäre sehr betrüblich, wenn die hohe Autorität der Eltern diese politische Affäre, die an einen inszenierten Diversionsakt grenzt, abfedern würde, wie man so sagt. Im Gegenteil erscheint es als äußerst wichtig, am Beispiel dieser betrüblichen Angelegenheit, auch innerhalb des Außenministeriums selbst eine erzieherische Aktion durchzuführen, damit auch alle anderen darüber nachdenken, welche Auswirkungen elterliche Liberalität haben kann sowie auch das Fehlen allseitiger Wachsamkeit gegenüber den Fragen … (die zweite Seite des Briefes fehlt in beiden Kopien).
    *
    Vielleicht bin ich der freieste Mensch im heutigen Russland. Im Grunde ist das eine geringe Leistung; besondere Konkurrenz ist in der Hinsicht nicht zu verzeichnen. Alle konkurrieren in anderen Dimensionen. Was ich mit meiner Freiheit anfangen soll, weiß ich nicht, aber sie ist mir gegeben als eine Art Hellsichtigkeit. Es hat sich irgendwie so gefügt, dass ich mich jenseits aller Ränge, Regalien, Konfessionen und Preise befinde. Ich meine, ich habe Glück gehabt. Ich habe weder Vorgesetzte noch Untergebene. Ich bin weder von einer Fotze noch von der Roten Armee abhängig. Ich scheiße auf Kritiker, Mode und Fanatiker. Der freieste Mensch im komischsten Land der Welt zu sein – das ist irrsinnig lustig. In anderen Ländern leben ernsthafte Menschen, die die Bürde der Verantwortung tragen wie volle Wasserkübel, bei uns hingegen komische, in andere Sprachen nicht übersetzbare: Kerle, Weiber, Milizionäre, Intelligenzler, Kolchosniki, Knackis, Volltrottel und andere Idioten. Komische Leute brauchen keine Freiheit.
    Was den Russen nicht alles an genialen Ideen in den Kopf gekommen ist – jede ist genial komisch. Das dritte Rom haben sie begründet, die Ahnen wieder erweckt, den Kommunismus aufgebaut. An was sie nicht alles geglaubt haben! An den Zaren, an weiße Engel, Europa, Amerika, die Orthodoxie, den NKWD , die Gemeinde, die Revolution, nationale Exklusivität – an alles und jeden haben sie geglaubt, nur nicht an sich selbst. Am komischsten aber ist es, wenn man das russische Volk zur Selbsterkenntnis aufruft, Sturm läutet und buddhistische Glöckchen anschlägt:
    »Erhebt euch, Brüder! Umarmen wir uns! Trinken wir!«
    Die Brüder werden sich erheben und garantiert trinken. Mit der Intelligenzija sitzt man nächtelang und redet über Gott, den Tod, Weiber, Liedermacher, das Schicksal – die Venen schwellen an, die Konzeptionen vermehren sich. Horizonte tun sich auf in vier Richtungen: Man raucht mit Byron, spielt Billard mit Che Guevara. Aber am Morgen erwacht man, und die Intelligenzija ist weg. Die Boheme liegt in den letzten Zügen. Also auf ins Big Business, ins Fernsehen, die Politik, zu den Oligarchen, man sitzt da
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