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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin
Autoren: Viktor Jerofejew
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Majakowski-Platz, und zu seinen Nachbarn in dem großen, von deutschen Kriegsgefangenen solide gebauten Haus im stalinschen Stil, mit Stuckschnörkeln an der Fassade, gehörten Fadejew, der führende Kopf unter den stalinistischen Schriftstellern, und der bemerkenswerte sozrealistische Maler Laktionow, von dem meine Mutter später aus prinzipiellen Erwägungen nicht gemalt werden wollte: Sie liebte die Impressionisten, und Laktionow hatte zu der Zeit bereits einen ramponierten Ruf. Mutter bekam also kein Porträt, das man heute für eine Menge Geld verkaufen könnte. Mutter fand später außer an den Impressionisten auch an den Liedern von Okudshawa Gefallen, und einmal brachte Galina Fjodorowna ihn mit zu uns nach Hause, sie rauchte eine »Java« nach der anderen, die sie aus dem zerdrückten weichen Päckchen herausfischte und rituell vor dem Anzünden zwischen zwei Fingern rollte, um den Tabak zu lockern, und Okudshawa tauchte auf, mager, jung und – arrogant (vielleicht aus Verlegenheit), begeistert über die Sammlung von Platten von Georges Brassens, mit dem mein Vater persönlich bekannt war, und mir schien es damals, dass Okudshawa, kaum hatte Brassens zu singen begonnen, uns völlig vergaß, und als er uns dann aus Höflichkeit seine Aufmerksamkeit wieder zuwandte, ging es am Zeitungstischchen um Stalins Tod, und Mutter sagte, dass an diesem Tag alle geweint hätten, aus Unverstand, und Okudshawa sagte plötzlich ganz leise …
    OKUDSHAWA Das war der glücklichste Tag in meinem Leben.
    Und es war auf einmal schrecklich peinlich.
    Der Mensch, der Stalins Tod nicht bemerkte, war fünfeinhalb Jahre alt, aber das entschuldigt ihn wenig. Die Kinder lebten, liefen umher, sangen und wussten, was im Land vor sich ging. Damit nicht genug, der Vater dieses Jungen arbeitete im Kreml als Referent von Molotow und Stalins Französisch-Dolmetscher. Vielleicht leide ich an totaler Gedächtnisschwäche, denn sosehr ich mich auch anstrenge, ich kann mich an den Tag der Trauer nicht erinnern. Wie ist das möglich?
    Jahrelang habe ich meinen Eltern immer wieder diese Frage gestellt. Zuerst bekam ich heraus, dass meine Mutter an jenem Tag zusammen mit ihren Freundinnen geweint hat. Sie arbeiteten alle im Außenministerium der UdSSR und weinten aus zweierlei Gründen. Erstens liebten sie Stalin. Zweitens hatten sie Angst, das Land würde ohne Stalin zusammenbrechen. Später gestand Mama:
    MAMA Ich bedaure, geweint zu haben, denn Stalin war ein Ungeheuer.
    Was den zweiten Punkt angeht, so hatten die Freundinnen, historisch gesehen, Recht. Stalin starb, und die UdSSR begann sich buchstäblich tags darauf zu zersetzen, unser Nachbar Fadejew erschoss sich bald danach, und wie sehr man auch versuchte, das Land einzubalsamieren, es zersetzte sich weiter und zerfiel schließlich in übel riechende Stücke.
    Und Vater? Hat mein Vater geweint?
    PAPA Ich war an diesem Tag zu beschäftigt, um zu weinen.
    Das gibt’s nicht! Wenn Vater über etwas nicht reden wollte, antwortete er nicht ausweichend, sondern kurz und klar. Natürlich, denn er musste ja den Sarg bestellen, die Kränze, den Katafalk, einen Berg von Blumen aus der ganzen Sowjetunion zusammenkaufen, so dass nichts mehr übrig blieb, was man dem ebenfalls verstorbenen Komponisten Prokofjew aufs Grab hätte legen können. Schließlich musste er sich mit den Genossen um den Friedhofsplatz kümmern, an den folgenden Tagen organisierte er das Beerdigungsgedränge auf dem Trubnaja-Platz, evakuierte die Leichen, die es nicht bis zum Katafalk geschafft hatten. Erst kürzlich gestand Vater:
    VATER Ich habe an jenem Tag erleichtert aufgeatmet.
    Aber war an diesem Geständnis etwas Wahres, oder war die Zeit ganz einfach wie ein wildes Tier zu einem anderen Weideplatz weitergezogen?
    *
    Aus dem Artikel von Daniel Verné, Le Monde , 25 . Januar 1979 :
    DES ÉCRIVAINS SOVIÉTIQUES NON-DISSIDENTS REFUSENT LA CENSURE ET ÉDITENT UNE REVUE DACTYLOGRAPHIÉE
    Moscou. – Un café dans une petite rue de Moscou. Un groupe d’écrivains a retenu la salle, mardi 23 janvier, pour présenter à quelques amis soviétiques, écrivains et artistes, une nouvelle publication. Le jour prévu, pourtant, le café est fermé. La veille, des médecins ont décidé que le lendemain serait «jour sanitaire», que le café avait absolument besoin d’être désinfecté de toute urgence.
    Cinq écrivains: Vassili Axionov (dont les œuvres sont connues en France, telles que Billets pour les étoiles ou Notre ferraille
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