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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin
Autoren: Viktor Jerofejew
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und verblödet. Oder man geht mit der Jugend in die Disco: Da kann man auf dem Klo etwas über den Krieg der Sterne zwischen Gut und Böse erfahren, über die Etymologie des japanischen Obszönvokabulars, vierundvierzig Methoden, einem Topmodel nicht zu gefallen, die mystischen Abgründe des Armageddon; und dabei kann man auch ein bisschen Ethno tanzen.
    Die russischen Schriftsteller sind ebenfalls komische Leute. Die einen lachen unter Tränen, die anderen einfach so. In diesem komischen Land kümmern sie sich um die Moral. Aber wie die Azteken sind auch sie blutrünstig und neigen zu Menschenopfern. Sie köpfen Frauen und Feinde. Die Romane sind durchtränkt vom Thema komische Väter und komische Kinder. Nicht nur bei Turgenjew und Dostojewski, sondern auch im Silbernen Zeitalter, so in Andrej Belys Petersburg , wird dieses Thema bis hin zum Ritualmord abgehandelt. Der revolutionäre Sohn und der reaktionäre Vater. Buch, Bombe, Terror. Hätte meine Mutter, die unter meiner kindlichen Gleichgültigkeit gegenüber dem gedruckten Wort litt, mir Bücher unterschob und die Liebe zur Literatur einzuimpfen versuchte, geahnt, dass ich dieses Thema zum Schaden der ganzen Familie im Leben nachspielen würde, sie hätte vermutlich sämtliche Bücher unserer Familienbibliothek verbrannt.
    *
    Aus einem Brief meiner Mutter an meinen Vater nach Moskau, abgeschickt in Wien am 17 . Februar 1979 :
    Mein lieber Wow,
    morgen sind es schon zwei Wochen, dass ich ohne Dich lebe. Und die ganze Zeit wie unter einer schottischen Dusche. Mal ist das Wasser kalt, mal wieder heiß …
    Ich habe Dir schon geschrieben, dass ich mich bemühe, ständig beschäftigt und mit Leuten zusammen zu sein, um die deprimierenden Gedanken loszuwerden. Aber jetzt habe ich wohl sämtliche Möglichkeiten, Leute zu treffen, ausgeschöpft. Wie viele können es auch schon sein bei unserem zurückgezogenen Leben?
    Den dritten Tag gießt es entweder in Strömen oder es herrscht dichter Nebel, der einem die Lust selbst an einem Spaziergang nimmt. (…)
    Wie oft schon musste ich mir Sorgen um Dich machen! Also wirklich, was hast Du denn mit literarischen Experimenten zu tun? Viktor hat sich wie der letzte Idiot benommen, sich Schlägen von allen Seiten ausgesetzt, wo er doch noch gar nichts Vernünftiges geschrieben und es noch nicht, wie man so sagt, zu etwas gebracht hat. Was für eine Verantwortungslosigkeit! Er hat Porzellan zerschlagen und sich im Leben viel und auf lange Zeit verdorben.
    Aber Du! Was hast Du damit zu tun? Du hast immer tadellose Arbeit geleistet und Dir damit Gesundheit und Nerven ruiniert. Die kolossale Verantwortung. Das ganze Leben der Arbeit geopfert. Die langen Abende, oft bis Mitternacht, wo andere (unleserlich) oder Wodka trinken.
    Damit schließe ich, denn ich kann nicht noch länger darüber schreiben. (…)
    Ich schicke Euch ein paar Sachen.
    Die Socken sind für Andrjuscha, die Dose Kaviar für Oleshka. Der Wein für Euch alle zusammen.
    Ich küsse Dich ganz fest.
    Galja
    *
    Wie ein wildes Tier wechselt die Zeit abrupt ihren Lebensraum. In verstaubten Koffern aus Krokodilleder, teuren Aktentaschen mit abgerissenem Griff, Kartons, in denen ursprünglich für den Export bestimmter Wodka der Marke »Stolitschnaja« verpackt war, werden Visitenkarten von Verstorbenen aufbewahrt, Einladungen zu Empfängen von längst abgedankten Regierungen, Menükarten von Essen mit nicht mehr existenten Leuten, Zeitungen mit Sondermeldungen (hauptsächlich Nachrufe). Bürokratischer Existenzialismus, die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, der Drang, Spuren zu hinterlassen. Mein Papa ist ein Lumpensammler.
    MAMA Wozu brauchst du das alles?
    Vater antwortet nie auf diese Frage. In seiner mittleren Schreibtischschublade liegt eine Ausgabe der Prawda , eine in der Geschichte der Journalistik nie da gewesene nekrophile Apotheose, in den schwarzen Rahmen der Zeitungsspalten umbrochen. Der Stil des ärztlichen Befunds über den Tod des Führers ist so brillant, dass man unwillkürlich denkt: All das ist Literatur.
    Damals war das ganze Leben Literatur. Am 5 . März 1953 teilten sich ihre handelnden Personen in solche, die weinten, und solche, die glücklich waren. Aber es gab einen Menschen, der nicht mitbekam, dass Stalin gestorben war. Dem weder die Trauermusik im Radio auffiel noch die roten Fahnen mit den schwarzen Bändern, die die Hausmeister herausgehängt hatten. Dabei wohnte er in Moskau, mitten im Zentrum in der Gorki-Straße Nr. 27 / 29 , nahe am
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