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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Morton
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1
    D as ländliche England, ein Bauernhaus mitten im Nir gendwo, ein Sommertag Anfang der Sechzigerjahre. Das Haus ist bescheiden: Fachwerk, an dem die weiße Farbe abblättert, rankende Clematis. Aus dem Kamin steigt Rauch auf, ein untrügliches Zeichen dafür, dass in der Küche etwas Köstliches auf dem Herd steht. Die Gemüsebeete hinter dem Haus sind mit Liebe angelegt, die Bleiglasfenster auf Hoch glanz geputzt, und das Schindeldach ist mit großer Sorgfalt ausgebessert.
    Ein Holzzaun umgibt das Haus, und ein robustes Tor trennt den gepflegten Garten von den umliegenden Weiden und einem weiter entfernten Wäldchen. Zwischen den knorrigen Bäumen plätschert ein Bach, sprudelt munter über Steine, schlängelt sich wie schon seit Jahrhunderten durch Sonnenlicht und Schatten. Aber das Plätschern kann man von hier aus nicht hören. Der Bach ist zu weit weg. Das Haus steht allein da, am Ende einer langen, staubigen Einfahrt, nicht sichtbar von der Landstraße aus, nach der es benannt ist.
    Bis auf eine leichte Brise, die hin und wieder aufkommt, ist alles still und ruhig. Zwei weiße Hula-Hoop-Reifen, im vergangenen Jahr der letzte Schrei, lehnen an einem Glyzinienbogen. Ein Teddybär mit Augenklappe und einem würdevoll ernsten Gesichtsausdruck bewacht das Ganze in seinem Ausguck im Klammerbeutel auf einem grünen Wäschewagen. Neben einem Schuppen wartet geduldig eine mit Blumentöpfen beladene Schubkarre.
    Trotz der Stille, oder vielleicht gerade deswegen, strahlt die Szene etwas Erwartungsvolles aus, wie eine Theaterbühne, kurz bevor die Schauspieler auftreten. Ein Moment, in dem noch alle Möglichkeiten offen sind, wenn das Schicksal noch nicht durch die äußeren Umstände besiegelt ist, und da –
    »Laurel!« – ertönt in einiger Entfernung eine ungeduldige Kinderstimme.
    »Lau-rel! Wo bist du?«
    Es ist, als wäre ein Bann gebrochen. Das Licht im Saal geht aus, der Vorhang hebt sich.
    Ein paar Hühner tauchen aus dem Nichts auf, um zwischen den Steinen des gepflasterten Gartenwegs zu picken, ein Häher stößt einen einzelnen Schrei aus, ein Traktor auf einer Weide beginnt zu tuckern. Und hoch über allem, auf dem Boden eines Baumhauses, reckt und streckt sich ein sechzehnjähriges Mäd chen, auf dem Rücken liegend, drückt das Zitronenbonbon, das es im Mund hat, an seinen Gaumen und seufzt …
    Es war sicher grausam, dachte sie, die anderen so lange nach ihr suchen zu lassen, aber die Hitzewelle, das Geheimnis, das sie hütete, die anstrengenden Spiele – noch dazu so kindische Spiele –, all das war einfach zu viel gewesen. Im Übrigen gehörte es zur Herausforderung und, wie Daddy immer sagte, war es nur gerecht, und sie würden es nie lernen, wenn sie es nicht versuchten. Es war nicht Laurels Schuld, dass sie besser im Verstecken war. Die anderen waren kleiner als sie, das stimmte, aber sie waren auch keine Babys mehr.
    Außerdem legte Laurel auch keinen besonderen Wert darauf, gefunden zu werden. Jedenfalls nicht heute. Nicht jetzt. Sie wollte nur hier oben liegen und den dünnen Stoff ihres Kleids an ihren nackten Beinen spüren, während sie an ihn dachte.
    Billy.
    Sie schloss die Augen, und sein Name schrieb sich in schwung vollen Buchstaben auf ihre Lider. Pink, neonpink. Sie drehte das Zitronenbonbon um, sodass es mit der hohlen Mitte auf ihrer Zungenspitze balancierte.
    Billy Baxter.
    Wie er sie über seine schwarze Sonnenbrille hinweg anschaute. Sein schiefes Lächeln. Sein dunkles Haar mit der Elvis-Tolle …
    Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, genau so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte, wie echte Liebe sein würde. Als Shirley und sie am Samstag vor fünf Wochen aus dem Bus gestiegen waren, hatten Billy und seine Freunde auf den Stufen des Tanzlokals gestanden und geraucht. Ihre Blicke hatten sich getroffen, und Laurel hatte dem lieben Gott dafür gedankt, dass sie einen ganzen Wochenendlohn für ein Paar neue Nylonstrümpfe geopfert hatte.
    »Komm schon, Laurel.« Das war Iris, ihre Stimme klang müde von der Hitze. »Das ist gemein.«
    Laurel schloss die Augen noch fester.
    Sie hatte keinen Tanz ausgelassen. Die Band hatte immer wilder gespielt, ihr Haar, das sie sich mühsam nach dem Vorbild der letzten Ausgabe der Bunty hochgesteckt hatte, hatte sich gelöst, und ihr hatten die Füße wehgetan, aber sie hatten immer weitergetanzt. Erst als Shirley, offenbar eingeschnappt, weil sie nicht beachtet worden war, wie eine Anstandsdame ankam und sagte, dass gleich der letzte
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