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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Morton
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älteren Mann war er ganz ansehnlich, und seine Haltung drückte Entschlossenheit aus. Ein Mann, der es nicht eilig hatte. Auf keinen Fall jemand, den sie kannte, keiner von den Freunden ihres Vaters aus dem Dorf und auch kein Landarbeiter. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass es sich um einen Reisenden handelte, der nach dem Weg fragen wollte, aber dafür lag das Bauernhaus eigentlich zu weit von der Landstraße entfernt. Vielleicht ein Zigeuner oder ein Landstreicher? Einer von diesen Männern, die hin und wieder auftauchten, glücklose Gestalten, die dankbar jede Arbeit annahmen, die ihr Vater ihnen anbot. Oder – der schreckliche Gedanke ließ sie erschaudern – es war der Mann, über den sie in der örtlichen Zeitung gelesen hatte, der, über den die Erwachsenen mit besorgter Miene sprachen, der Kerl, der Leute beim Picknick erschreckte oder Frauen belästigte, die allein zum Bach gingen.
    Laurel schüttelte sich bei dem unheimlichen Gedanken, dann gähnte sie. Der Mann war nicht gefährlich; sie sah seine lederne Aktentasche. Wahrscheinlich ein Vertreter, der ihrer Mutter die neueste Lexikonreihe verkaufen wollte.
    Sie wandte sich wieder ihrem Buch zu.
    Einige Minuten waren vergangen, als sie am Fuß des Baums Barnaby knurren hörte. Laurel richtete sich wieder auf, und als sie aus dem Fenster schaute, sah sie den Spaniel auf dem gepflasterten Weg stehen. Er beobachtete den Mann, der gerade dabei war, die kleine schmiedeeiserne Pforte zu öffnen, die in den Garten führte.
    »Aus, Barnaby!«, rief ihre Mutter aus dem Haus. »Wir sind gleich so weit.« Sie erschien in der Tür, blieb kurz stehen, um dem Kleinen etwas ins Ohr zu flüstern und ihm einen Kuss auf das dicke Bäckchen zu geben. Der Kleine krähte glücklich.
    Hinter dem Haus quietschte das Tor neben dem Hühnerstall – die Scharniere mussten mal wieder geölt werden –, und der Hund begann erneut zu knurren.
    »Aus, Barnaby!«, sagte Laurels Mutter erneut. »Was ist denn bloß in dich gefahren?«
    Der Mann kam um die Hausecke und schaute sich um. Ihr Lächeln erstarb.
    »Guten Tag«, sagte der Fremde und blieb stehen, um sich mit einem Taschentuch den Schweiß von den Schläfen zu wischen. »Schönes Wetter heute.«
    Der Kleine strahlte den Fremden an und streckte die Ärmchen nach ihm aus.
    Es war eine Einladung, der niemand widerstehen konnte, und der Mann steckte sein Taschentuch ein, trat näher und hob eine Hand, als wollte er das Kind segnen.
    Wie im Reflex zog Laurels Mutter den Kleinen von dem Fremden weg. Dann setzte sie ihn unsanft hinter sich auf den Boden. Spitze Kieselsteine bohrten sich in die Haut an seinen nackten Beinchen, und für ein Kind, das nur Liebe und Wohlbefinden kannte, war der Schreck zu groß. Er begann zu weinen.
    Am liebsten wäre Laurel losgelaufen, um ihren kleinen Bruder zu trösten, aber sie war wie gelähmt. Sie spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufrichteten. Das Gesicht ihrer Mutter nahm einen Ausdruck an, den sie noch nie bei ihr gesehen hatte. Das war Angst, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Ma hatte Angst.
    Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Die Sicherheit eines ganzen Lebens löste sich in Rauch auf und wurde von Panik abgelöst.
    »Hallo Dorothy«, sagte der Mann. »Lange nicht gesehen.«
    Er kannte den Namen ihrer Mutter. Der Mann war kein Fremder.
    Wieder sagte er etwas, diesmal so leise, dass Laurel es nicht verstehen konnte, und ihre Mutter nickte schweigend. Sie hörte dem Mann zu, den Kopf zur Seite geneigt. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, und sie schloss für einen Moment die Augen.
    Dann geschah alles sehr schnell.
    Der silberne Blitz brannte sich Laurel für immer ins Gedächtnis. Das Sonnenlicht, das die metallene Klinge aufleuchten ließ, in einem kurzen Augenblick voller Schönheit.
    Dann fuhr das Messer herab, das besondere Messer, und versank tief in der Brust des Mannes. Der Mann schrie auf, in seinem schmerzverzerrten Gesicht spiegelten sich Verblüffung und Entsetzen. Laurel sah, wie seine Hände nach dem Messer griff fassten, dem Griff aus Elfenbein, um den herum sein Hemd sich rot färbte, während er langsam zu Boden sank und der warme Wind seinen Hut durch den Staub trieb.
    Der Hund bellte wie verrückt, der Kleine saß auf dem Boden und weinte erbärmlich, sein Gesicht gerötet und tränenüber strömt, während ihm das kleine Herz brach, aber für Laurel ver blassten all diese Geräusche. Sie hörte nur noch das Rauschen des Bluts in ihren Ohren, das laute Keuchen
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