Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Morton
Vom Netzwerk:
sie vorsichtiger gewesen wäre. Aber es war passiert, weil sie nicht vorsichtig gewesen war. Weil sie in Eile gewesen war. Und deswegen würde sie sich immer die Schuld an dem geben, was dann geschehen war. Aber damals hatte sie einfach nicht nachgedacht. So sehr, wie sie sich zuerst danach gesehnt hatte, allein zu sein, hatte sie jetzt unbedingt dazugehören wollen, und zwar sofort, als wäre es plötzlich das Wichtigste auf der Welt.
    So war es ihr in letzter Zeit oft ergangen. Sie war wie die Wetterfahne auf dem Dach von Greenacres, als wären ihre Gefühle den Launen des Winds ausgesetzt. Es war seltsam, manchmal sogar beängstigend, aber irgendwie auch aufregend. Wie eine Bootsfahrt auf einem stürmischen Meer.
    Und diesmal war es auch noch schmerzhaft. Denn in ihrer Eile, zu den anderen zu gelangen, scheuerte sie sich das Knie am Boden des Baumhauses auf. Sie unterdrückte einen Fluch, und als sie hinunterschaute, sah sie frisches, überraschend rotes Blut. Anstatt nach unten zu klettern, zog sie sich wieder ins Baumhaus hoch, um den Schaden zu begutachten.
    Sie saß immer noch da oben und betrachtete ihr blutendes Knie und fragte sich, ob Billy die hässliche Schürfwunde auf fallen würde und wie sie sie verdecken könnte, als sie aus dem Wäldchen ein Geräusch hörte. Es war ein Rascheln, das einerseits natürlich klang, sich andererseits so sehr von allen anderen Nachmittagsgeräuschen abhob, dass sie darauf aufmerksam wurde. Als sie aus dem Fenster schaute, sah sie Barnaby durch das hohe Gras tollen, wobei seine Ohren auf und ab schlenkerten wie samtene Flügel. Und kurz dahinter folgte ihre Mutter. Sie ging mit großen Schritten in ihrem selbst genähten Sommerkleid über die Wiese, auf der Hüfte den Kleinen in seinem Spielhöschen, der vergnügt mit den nackten Beinchen strampelte.
    Die beiden waren zwar ziemlich weit weg, aber der Wind trug das Lied, das ihre Mutter sang, bis zu Laurel herüber. Es war ein Lied, das sie allen Kindern vorgesungen hatte, als sie Babys gewesen waren, und der Kleine jauchzte vor Vergnügen, wenn ihre Mutter mit den Fingern an seinem Bauch hochkrabbelte und ihn am Kinn kitzelte. Die beiden waren so in ihrer Welt versunken und die ganze Szene auf der sonnendurchtränkten Wiese wirkte so idyllisch, dass Laurel spürte, wie sich in das Vergnügen, die beiden beobachten zu können, Eifersucht mischte, weil sie an ihrem Glück nicht teilhaben konnte.
    Als ihre Mutter die kleine Pforte öffnete und den Garten betrat, begriff Laurel, dass sie gekommen war, um das Kuchenmesser zu holen.
    Mit jedem Schritt ihrer Mutter rückte Laurels Chance auf Wiedergutmachung in weitere Ferne. Die Enttäuschung darüber verdarb ihr so gründlich die Laune, dass sie, anstatt sich bemerkbar zu machen oder vom Baum zu klettern, wie versteinert im Baumhaus hocken blieb. Mit einer dumpfen Wut im Bauch, die ihr ein seltsames Gefühl der Befriedigung verschaffte, schaute sie zu, wie ihre Mutter das Haus betrat.
    Als ein Hula-Hoop-Reifen umfiel und lautlos auf dem Boden landete, betrachtete Laurel das als Zeichen der Solidarität und beschloss zu bleiben, wo sie war. Sollten sie sie ruhig noch eine Weile vermissen; sie würde an den Bach gehen, wenn sie so weit war. In der Zwischenzeit würde sie Die Geburtstagsfeier noch einmal lesen und sich eine Zukunft erträumen, weit weg von hier, in der sie schön war und gebildet und erwachsen und ohne Schorf am Knie.
    Als sie den Mann zum ersten Mal sah, war er kaum mehr als ein undeutlicher Fleck am Rand ihres Blickfelds, ganz unten am Ende der Einfahrt. Später war Laurel sich nicht einmal mehr sicher, warum sie ausgerechnet in dem Moment aufgeblickt hatte. Als sie ihn ums Haus kommen sah, dachte sie eine Schrecksekunde lang, es wäre Billy, der früher gekommen war, um sie abzuholen. Erst als sie ihn deutlicher erkennen konnte und sah, dass die Kleidung nicht stimmte – dunkle Tuchhose, Hemd und ein schwarzer Hut mit einer altmodischen Krempe –, atmete sie erleichtert auf.
    Die Erleichterung wich schnell der Neugier. Es kamen nur selten Besucher, erst recht nicht zu Fuß. Und doch spukte eine vage Erinnerung in Laurels Hinterkopf herum, während sie den Mann näher kommen sah, ein seltsames Gefühl von Déjà-vu, das sie beim besten Willen nicht einordnen konnte. Laurel ver gaß ihre schlechte Laune und verfolgte das Geschehen von ihrem sicheren Versteck aus.
    Die Ellbogen auf das Fenstersims gelehnt, stützte sie das Kinn in die Hände. Für einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher