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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Morton
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offenstehen.
    Das Triumphgefühl trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie sah sich um, betrachtete das Haus: das Fenster ihres Zimmers, die Bergastern, die sie mit ihrer Ma auf dem Grab von Constable, dem armen Kater, gepflanzt hatte, der Spalt zwischen den Backsteinen, wo sie als kleines Mädchen ihre Milchzähne versteckt hatte, damit die Zahnfee sie abholen konnte.
    Sie hatte vage Erinnerungen an die Zeit davor, wie sie in Pfützen am Strand Schnecken gesammelt und jeden Abend in der Pension ihrer Grandma zu Abend gegessen hatte, aber sie waren wie ein Traum. Das Bauernhaus, in dem sie jetzt wohnte, war das einzige Zuhause, das sie kannte. Es gefiel ihr, ihre Eltern Abend für Abend in ihren Sesseln sitzen zu sehen, zu wissen, dass die beiden, während sie einschlief, im Nebenzimmer leise miteinander redeten, dass sie nur einen Arm auszustrecken brauchte, um eine ihrer Schwestern zu berühren.
    Sie würden ihr alle fehlen, wenn sie fortging.
    Laurel blinzelte. Sie würden ihr schrecklich fehlen. Die plötzliche Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Ihre Schwestern liehen sich, ohne zu fragen, ihre Kleider aus, brachen ihre Lippenstifte ab, zerkratzten ihre Schallplatten. Aber sie würden ihr fehlen. Ihr wildes Treiben, das Streiten, das ausgelassene Lachen. In dem Zimmer, das sie sich teilten, führten sie sich auf wie junge Hunde. Für Außenstehende war es unerträglich, aber ihnen gefiel das. Sie waren die Nicolson-Mädchen: Laurel, Rose, Iris und Daphne. Ein Blumenbeet voller Töchter, wie ihr Daddy sich gern ausdrückte, wenn er ein oder zwei Bier zu viel getrunken hatte. Satansbraten, wie ihre Grandma stöhnte, wenn die Schwestern mal wieder ein paar Stunden bei ihr verbracht hatten.
    Aus der Ferne hörte Laurel das Lachen und Kreischen der anderen unten am Bach. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie sah ihre drei Schwestern vor sich wie auf einem alten Gemälde. Wie sie einander mit gerafften Röcken durch das seichte Wasser jagten. Rose, die sich auf den Felsen in Sicherheit gebracht hatte und die dünnen Beine ins Wasser baumeln ließ, während sie mit einem nassen Stöckchen Bilder auf den Stein malte, Iris, völlig durchnässt und wütend, Daphne mit ihren Ringellocken, die sich den Bauch hielt vor Lachen.
    Die karierte Picknickdecke lag im Gras am Ufer ausgebreitet, ihre Mutter stand an der Biegung, wo der Bach schneller floss, knietief im Wasser und ließ ihre Papierbötchen schwimmen. Ihr Vater saß mit hochgekrempelten Hosenbeinen da und schaute zu, eine Zigarette im Mundwinkel, ein beseligtes Lächeln im Gesicht – Laurel sah es genau vor sich –, als könnte er sein Glück nicht fassen, dass das Schicksal ihn genau in diesem Moment an genau diesen Ort geführt hatte.
    Und zu Füßen ihres Vaters, im flachen Wasser, planschte der Kleine und versuchte lachend und quiekend, mit seinen Patschhändchen Mummys Bötchen einzufangen. Der Kleine. Ihrer aller Sonnenschein.
    Natürlich hatte er einen Namen, Gerald, aber niemand nannte ihn so. Es war ein Name für einen Erwachsenen, und er war doch noch so klein. Heute wurde er zwei Jahre alt, aber er hatte immer noch rosige Pausbäckchen mit Grübchen, seine Augen funkelten verschmitzt, und dann diese dicken, weichen Beinchen. Manchmal musste Laurel sich zusammennehmen, um sie nicht zu fest zu drücken. Sie alle wollten seine Lieblingsschwester sein, und sie alle hielten sich dafür, aber Laurel wusste, dass der Kleine ganz besonders strahlte, wenn er sie sah.
    Wie konnte es also sein, dass sie auch nur eine Minute seiner Geburtstagsfeier verpasste? Was dachte sie sich eigentlich dabei, sich so lange im Baumhaus zu verstecken, vor allem wo sie vorhatte, schon bald mit Billy durchzubrennen?
    Schuldbewusst runzelte Laurel die Stirn, doch dann fasste sie einen Entschluss. Sie würde alles wiedergutmachen. Sie würde vom Baum klettern, das Geburtstagsmesser vom Küchentisch holen und damit zum Bach gehen. Sie würde die wohlerzogene Tochter spielen, die vorbildliche große Schwester. Wenn sie das alles hinbekam, bevor auf ihrer Armbanduhr zehn Minuten verstrichen waren, würde sie auf dem imaginären Punktekonto, das sie insgeheim führte, zehn Bonuspunkte bekommen. Der warme Wind umspielte ihren sonnengebräunten Fuß, als sie ihn hastig auf die oberste Sprosse der Leiter setzte.
    Später sollte Laurel sich fragen, ob alles anders gekommen wäre, wenn sie sich mehr Zeit gelassen hätte. Ob die ganze schreckliche Geschichte vielleicht nie passiert wäre, wenn
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