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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Morton
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Bus fuhr und ob sie mitkommen wolle (ihr, Shirley, sei es selbstverständlich egal, was sie mache), hatte sie aufgehört. Und dann, als sie sich verschwitzt verabschiedet hatte und Billy ihre Hand genommen und sie an sich gezogen hatte, da hatte etwas tief in ihrem Innern gewusst, dass sie schon ihr ganzes Leben auf diesen wunderbaren Augenblick gewartet hatte …
    »Okay, wie du willst.« Iris klang jetzt wirklich sauer. »Aber du bist selbst schuld, wenn nachher nichts mehr von der Geburtstagstorte übrig ist.«
    Zwölf Uhr war gerade vorbei, ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster des Baumhauses und ließ Laurels Lider von innen rot erglühen wie Cherry-Cola. Sie setzte sich auf, machte jedoch keine Anstalten, ihr Versteck zu verlassen. Es war eine ernst gemeinte Drohung – denn es war allgemein bekannt, wie versessen Laurel auf die Victoria-Torte ihrer Mutter war –, aber sie zog nicht. Laurel wusste ganz genau, dass das Kuchenmesser auf dem Küchentisch lag. Es war in dem allgemeinen Chaos vergessen worden, als sie Picknickkörbe, Decken, Limonade, Badetücher und das neue Transistorradio eingepackt hatten und zum Fluss gegangen waren. Sie wusste es, weil sie während des Versteckspiels ins Haus zurückgeschlichen war, um das Buch zu holen. Da hatte sie das Messer neben der Obstschüssel liegen sehen, mit einer roten Schleife um den Griff.
    Das Messer war Tradition – mit ihm war bislang jeder Festtagskuchen, jede Jubiläums-und Geburtstagstorte in der Geschichte der Familie Nicolson angeschnitten worden –, und ihrer Mutter waren Traditionen heilig. Deswegen bestand für Laurel kein Grund zur Eile, bis jemand losgeschickt wurde, um das Messer zu holen. Und das war auch gut so. In einem Haus wie dem ihren, wo ruhige Minuten so selten waren wie Sternschnuppen, wo ständig jemand durch eine Tür hereinkam oder eine andere zuschlug, musste man es ausnutzen, wenn man einmal Zeit für sich allein hatte.
    Und gerade heute brauchte Laurel Zeit für sich.
    Das Buch war am vergangenen Donnerstag mit der Post angekommen, und zum Glück hatte Rose das Päckchen entgegengenommen, nicht Iris oder Daphne oder – Gott bewahre – ihre Mutter. Laurel hatte sofort gewusst, von wem es kam. Sie war hochrot angelaufen, aber sie hatte es gerade noch geschafft, etwas von Shirley zu stammeln und von der neuesten Schallplatte einer bestimmten Band, die sie sich von ihrer Freundin ausleihen wollte. Die Ausrede war völlig überflüssig gewesen, denn die ewig verträumte Rose hatte ihre Aufmerksamkeit längst einem Schmetterling zugewandt, der auf dem Zaunpfahl saß.
    Als sie am Abend alle im Wohnzimmer gehockt und Juke Box Jury im Fernsehen gesehen hatten und Iris und Daphne darüber gestritten hatten, wer männlicher aussah, Cliff Richard oder Adam Faith, und ihr Vater unmutig eingeworfen hatte, dass sie alle mit amerikanischem Akzent redeten und überhaupt die Menschen in England immer dicker wurden, hatte Laurel sich hinausgestohlen. Sie hatte sich im Bad eingeschlossen, sich auf den Boden gesetzt und mit dem Rücken an die Tür gelehnt.
    Mit zitternden Fingern hatte sie das Päckchen aufgerissen.
    Ein dünnes, in Seidenpapier eingewickeltes Buch war ihr in den Schoß gefallen. Als sie den Titel durch das Papier gelesen hatte – Die Geburtstagsfeier von Harold Pinter –, war ihr ein Schauer über den Rücken gelaufen, und sie konnte nur mit Mühe einen Jubelschrei unterdrücken.
    Seitdem schlief sie mit dem Buch unter dem Kopfkissen. Das war zwar nicht besonders bequem, aber sie wollte es in ihrer Nähe haben. Sie brauchte es in ihrer Nähe. Es war wichtig.
    Es gab Momente im Leben, davon war Laurel überzeugt, da stand der Mensch an einem Scheideweg; Momente, in denen aus heiterem Himmel etwas passierte, das alles änderte. Die Premiere von Pinters Theaterstück war ein solcher Moment gewesen. Sie hatte in der Zeitung davon gelesen und den unwiderstehlichen Drang verspürt hinzugehen. Sie hatte ihren Eltern erzählt, sie würde Shirley besuchen, hatte Shirley darauf eingeschworen, den Mund zu halten, und dann war sie in den Bus nach Cambridge gestiegen.
    Es war das erste Mal gewesen, dass sie allein irgendwohin gefahren war, und als sie im dunklen Theater gesessen und miterlebt hatte, wie Stanleys Geburtstagsfeier sich zu einem Albtraum entwickelte, war sie von einem nie gekannten Hochgefühl ergriffen worden. Es schien die Art Offenbarung zu sein, die die Schwestern Buxton jeden Sonntag mit erhitzten Gesich tern in der
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